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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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Marian ihrer Freundin bei. »Und noch dazu Schuhe, die in einer einzigen Nacht durchgetanzt sind? Weißt du, dass ich viel lieber im Reiterkleid und festen Mantel in Maygarden über die Hügel reiten würde, als mich hier in der Hauptstadt in einem Ballsaal herumzutreiben? Ach, ich träume in letzter Zeit so oft von meinem hübschen einsamen Landsitz! Ich wünschte wirklich, ich wäre dort!«
    »Aber das kommt überhaupt nicht infrage, Marian!«, regte Kate sich auf. »Du wirst George heiraten und mit ihm in London wohnen – das haben wir doch miteinander ausgemacht, oder nicht?«
    »Also … dass ich ihn heiraten werde, habe ich nicht gesagt, Kate. Höchstens wenn er mir gefällt … vielleicht …«
    »Er wird dir ganz bestimmt gefallen, Marian! Ich werde ihm einschärfen, dass er sich dir gegenüber wie ein Gentleman zu benehmen hat. Weißt du, George tut alles, was ich will, er ist ein wirklich lieber Kerl, mit dem man Pferde stehlen kann …«
    Marian seufzte und schob den Teller zurück, obgleich noch einige Bohnen und eine halbe Kartoffel darauf lagen. Dieser Tag taugte nicht viel, das war jetzt schon klar. Kates Eltern waren ebenfalls zur Messe gekommen. Sie hatten gleich hinter den Zöglingen in einer Bank gesessen, und Kate hatte sich immer wieder umgedreht, um ihnen zuzulächeln. Nach dem Mittagessen würden sie ins Pensionat gehen, um Kate zu einem Ausflug abzuholen, und bei dieser Gelegenheit würde die arme Kate wohl die traurige Nachricht erfahren, dass Mr. Strykers seinem Mündel verboten hatte, die Einladung zur Abendgesellschaft anzunehmen. Das würde Kates schlaue Zukunftsplanung aus den Angeln heben, und obgleich Marian auf keinen Fall bereit gewesen wäre, Kate zuliebe den rothaarigen spindeldürren George zu heiraten, so tat ihr die Freundin doch leid.
    Schlimmer noch war dieser Mensch, der ganz hinten im Kirchenschiff auf der letzten Bank gesessen hatte. Die Mädchen des Pensionats gingen immer paarweise durch den Mittelgang zu ihren Plätzen – eine lange Prozession, die von den übrigen Kirchenbesuchern mit leisem Schmunzeln beobachtet wurde. Marian selbst hatte den Mann gar nicht wahrgenommen, als sie an ihm vorüberging, aber Lisa, die neben ihr lief, machte sie auf ihn aufmerksam, und sie tat es so auffällig, dass es sämtliche Kirchenbesucher einschließlich des Küsters und der Knaben, die die Orgel melken mussten, mitbekamen.
    »Hast du ihn gesehen, Marian? Großer Gott, das ist Professor Sereno, der berühmte Gesangspädagoge! Er soll die Giuditta Pasta und die Maria Malibran ausgebildet haben, und meine Cousine Grace hatte auch bei ihm Unterricht …«
    Zu allem Überfluss blieb sie auch noch stehen, um einen wohlerzogenen Knicks vor dem berühmten Mann zu machen – eine Geste, die dieser höflich mit einer angedeuteten Verbeugung im Sitzen quittierte. Doch Marian, die bei der Erwähnung seines Namens erstarrt war, bemerkte sehr wohl, dass Professor Serenos neugierige Blicke nicht auf die schmachtende Lisa, sondern auf sie, Marian, gerichtet waren. Er hatte übergroße braune Augen mit hängenden Lidern und Tränensäcken darunter, die jedoch erstaunlich ausdrucksvoll schauen konnten. Marian hatte zumindest das Gefühl gehabt, von diesem langen eindringlichen Blick geradezu verschlungen zu werden, und sie war froh, dass sie später in der ersten Bankreihe sitzen musste.
    Normalerweise saßen dort jene Mädchen, die während der Woche mehrere Einträge in Mrs. Potters Büchlein erhalten hatten. Der Platz war nicht beliebt, denn man befand sich dort direkt unter den Augen des Priesters. Aber dort war sie durch die hinter ihr sitzenden Kirchenbesucher vor den aufdringlichen Blicken des Professors geschützt. Und natürlich hatte sie sich bemüht, die Kirchenlieder so leise wie möglich zu singen.
    Die Mädchen, die heute mit dem Abräumen des Geschirrs an der Reihe waren, begannen jetzt auf Mrs. Potters Zeichen hin, die leer gegessenen Teller einzusammeln, um sie in die Küche zu tragen. Andere teilten schon Dessertteller für den Nachtisch und kleine Löffel dazu aus. Es gab Milchreis mit eingeweichtem Trockenobst, eine Nachspeise, die besonders bei den jüngeren Mädchen sehr beliebt war, einige behaupteten sogar, sie wären dafür gestorben.
    Nach dem Mittagessen waren die Zöglinge am Sonntag meist sich selbst überlassen. Mrs. Potter pflegte sich dann in ihre Räume zurückzuziehen, um ein wenig Ruhe zu haben. Miss Woolcraft und Mrs. Crincle waren in einer weniger glücklichen
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