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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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keinen Ton würde er von ihr zu hören bekommen! Sollte er doch die vielen Mädchen unterrichten, die sich ihm vor die Füße warfen! Es war wirklich ärgerlich, dass er ihr diesen schönen Nachmittag verdarb.
    Die Bibliothek stellte einen der Räume dar, die Mr. Duncaster aus weiser Sparsamkeit von allen Renovierungsarbeiten ausgenommen hatte. Sie befand sich noch im gleichen Zustand, in der ihr Vorbesitzer sie verlassen hatte. Man musste in die zweite Etage hinaufsteigen, wo sich auch die Dienstbotenkammern und die Vorratsräume befanden, und eine eingelegte Tür öffnen, um in den großen halbdunklen Raum zu gelangen. Es war sehr still dort, nur das Parkett knarrte, wenn man darüberging, und manchmal erschreckte einen ein Knacken, das von den mit Büchern beladenen Schränken herrührte. Man konnte sehr gut sehen, wie die Bibliothek im Laufe der Jahrzehnte gewachsen war, denn man hatte immer neue Schränke anschaffen müssen, bis schließlich kein Stückchen der verblassten hellblauen Tapete mehr zu sehen war. Die Vorhänge an den Fenstern bestanden aus rotem Samt, der im Laufe der Jahre ausgebleicht war. Mrs. Potter schickte hin und wieder eines der Dienstmädchen mit einem Staubwedel vorbei, vor allem wegen der Spinnen, die sich in den Vorhängen und hinter den Schränken aufhielten, und auch der Fußboden wurde manchmal gekehrt. Ansonsten aber traf man hier oben höchstens einmal Reverend Jasper, denn weder Mrs. Potter noch Miss Woolcraft oder die Crincles hielten viel von alten Büchern.
    Marian setzte sich an den langen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, und stützte den Kopf in die Arme. Von unten hörte man Gelächter und Gekicher – einige der Mädchen saßen wohl im Klassenzimmer und schwatzten. Da würde vermutlich gleich Miss Woolcraft dazwischenfahren, denn sie waren zu laut. Eigentlich hätte sie ja zu den anderen hinuntergehen können, aber aus irgendeinem Grund war ihr heute nicht nach dummen Witzen und albernen Geschichten zumute. Sie überlegte, ob sie sich eines der Bücher holen sollte, in denen sie vergangenen Sonntag geschmökert hatte. Es waren Geschichten und Sagen gewesen, Elben, Riesen und Zwerge waren darin vorgekommen, auch junge Helden, die sich in schöne Frauen verliebten. Leider waren alle Liebesgeschichten, die sie bisher gelesen hatte, sehr traurig ausgegangen, aber vielleicht fand sie ja wenigstens eine, die glücklich endete.
    Sie holte tief Luft und stand auf, um das Buch aus dem Schrank zu nehmen. Vermutlich würde man sie genau in dem Moment nach unten rufen, wenn die Geschichte so richtig spannend wurde – so war es immer. Aber das war schließlich kein Grund, überhaupt nicht mehr zu lesen.
    Die Ecke, in der der Schrank stand, erschien ihr heute besonders dunkel. Vermutlich lag es daran, dass jemand die Vorhänge vor die Fenster gezogen hatte, sodass das Sonnenlicht rote Flecke auf den alten Samt zauberte. Die Schatten, die auf das eingelegte Parkett vor dem Schrank fielen, waren ebenfalls rot, seltsame Flecke und Zeichen, die sich bewegten und einen flackernden Tanz aufführten. Marian schritt mutig mitten durch die roten Flammenzeichen hindurch, zog die mit Glas eingelegte Schranktür auf und musterte die Buchrücken. Es war ein schmaler Band gewesen, in hellbraunes glattes Leder gebunden. Der Buchtitel war in kleiner ziemlich verblasster Goldschrift auf den Buchrücken gedruckt.
    Stand eines der Fenster offen, oder war der Luftzug von der Tür her gekommen? Sie hielt inne und sah sich um – nein, die Tür war geschlossen. Weshalb aber hatte sie gerade eben das Gefühl gehabt, der Fenstervorhang hätte sich bewegt?
    Ich sehe Gespenster, dachte sie beklommen. Am frühen Nachmittag bei hellem Sonnenschein, während unten im Klassenzimmer die anderen Mädchen Witze erzählen, bilde ich mir ein, hier in der Bibliothek ginge ein Geist um!
    Doch sie konnte das unruhige Klopfen ihres Herzens ebenso wenig beherrschen wie das seltsame Summen in ihren Ohren. Ihr Finger glitt über die Buchrücken, folgte den breiten und schmalen Wölbungen der ledernen Einbände, doch ihre Aufmerksamkeit galt nicht mehr den Büchern. All ihre Sinne waren nach außen gerichtet. Da war etwas, sie spürte es deutlich: Ein Wesen teilte diesen Raum mit ihr, ein Schatten war gerade eben dicht an ihr vorbeigeschlüpft und befand sich jetzt hinter dem dicken Samtvorhang des Fensters. Ein Zittern erfasste Marian, das nichts mit Furcht zu tun hatte. Es kam vielmehr einem Zustand hochgespannter
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