Gesang der Daemmerung
Erwartung gleich. War es jener fremde Besucher, den sie vor Tagen gesehen hatte? Sie hatte oft an ihn gedacht und sogar von ihm geträumt, schließlich aber auch überlegt, ob sie vielleicht krank war und Wahnvorstellungen gehabt hatte.
Wenn ich verrückt bin, dann ist hinter dieser Gardine schlicht und einfach gar nichts, dachte sie. Wenn es aber tatsächlich Geistwesen gibt, dann versteckt sich eines davon jetzt hinter diesem verdammten alten Samtvorhang!
Blitzschnell drehte sie sich um, fasste eine Falte des Vorhangs und riss den Stoff schwungvoll zur Seite. Staub wirbelte auf, irgendwo knirschte etwas Metallisches, weiter oben brach etwas aus der Wand heraus, und der gesamte Vorhang stürzte samt Stange und Aufhängung herunter. Marian konnte gerade noch zurückweichen, sonst hätte die schwere Messingstange sie getroffen, dann aber versank sie in einer Wolke aus ergrautem Mauerputz, Tapetenresten und uraltem Dreck. Hustend und keuchend flüchtete sie aus der Ecke heraus und wischte sich den Staub aus den Augen.
Gar nichts war hinter dem Vorhang gewesen, nur Spinnweben und jede Menge Schmutz. Es gab keine Geistwesen.
Kapitel 5
»Großer Gott!«, hörte Marian Miss Woolcrafts Stimme. »Was hast du denn nun wieder angestellt, Marian Lethaby? Willst du dieses Haus endgültig ruinieren?«
Miss Woolcraft hatte die Tür der Bibliothek aufgerissen und eilte jetzt, einem grauen Schlachtschiff gleich, an Marian vorbei zum Fenster hinüber, um den Schaden in Augenschein zu nehmen.
»Der schöne Vorhang!«, rief sie und schlug theatralisch die Hände zusammen. »Und die Stange aus der Wand gerissen! Na, das wird teuer. Wenn Mr. Duncester davon erfährt, wird er …«
Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, weil der immer noch umherwirbelnde Staub ihr in Hals und Nase drang und sie husten musste.
»Ich wollte nur den Vorhang beiseiteschieben, da ist alles auf mich heruntergefallen«, verteidigte Marian sich. »Wenn die Messingstange mich erschlagen hätte, käme die Sache für Mr. Duncester noch viel teurer …«
Miss Woolcraft hustete immer noch und konnte daher nichts erwidern, doch sie bewegte abwehrend die Arme, um Marian anzudeuten, dass sie puren Unsinn redete.
»Komm jetzt mit hinunter, es ist Besuch für dich gekommen!«, keuchte sie schließlich und fasste Marian am Arm. »Nein, warte! Klopf erst einmal dein Kleid ab, und fahr dir durchs Haar. Fester. Noch fester! Du liebe Güte, was für ein Staub! Wisch dir übers Gesicht! Und schüttle den Rock aus …«
Es dauerte eine Weile, bis Marian in einen Zustand versetzt worden war, in dem man sie präsentieren konnte. Unten im Salon – den Mrs. Potter eigentlich als Teil ihrer Privaträume betrachtete – wartete Professor Sereno auf sie.
»Was für ein unglückseliger Tag!«, stöhnte Miss Woolcraft mit einem letzten Blick auf das Häuflein Müll, das einmal ein Vorhang gewesen war. »Die arme Mrs. Crincle hat fürchterliche Kopfschmerzen, und ihrem Mann geht es auch nicht gut – es ist, als läge etwas in der Luft …«
Sie stiegen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, und je tiefer sie kamen, desto mehr dämpfte Miss Woolcraft ihre Stimme, um ja Mrs. Potter nicht in ihrer Sonntagsruhe zu stören.
»Und benimm dich anständig!«, flüsterte sie, als sie vor der Tür des Salons standen. »Mrs. Potter meinte, es sei für das Pensionat eine besondere Auszeichnung, dass dieser berühmte Mann an einer unserer Schutzbefohlenen Interesse zeigt. Bemüh dich also, einen guten Eindruck zu machen …«
»Ja, Miss Woolcraft.«
Mrs. Potter konnte Marian sowieso nicht leiden – nach ihrem Gespräch mit Professor Sereno würde sie sie hassen.
Der Salon war mit dem noch verwendbaren Mobiliar des adeligen Vorgängers vollgestopft, das man aus verschiedenen Zimmern zusammengetragen und hier aufgestellt hatte. Marian fand den Raum fürchterlich stickig und überladen – ein Wunder, dass Mrs. Potter sich hier wohlfühlen konnte.
»Da bist du ja endlich, Marian!«
Natürlich hatte Mrs. Potter es sich nicht nehmen lassen, den berühmten Gesangspädagogen zu empfangen und ein wenig mit ihm zu plaudern. Anders als Mr. Strykers schien Professor Sereno jedoch keine Neigung zu Wacholderlikör zu verspüren, und auch die Gespräche schienen recht unbefriedigend verlaufen zu sein. Das war schon an Mrs. Potters missvergnügtem Gesichtsausdruck und an ihrem ruppigen Ton zu erkennen. Marian gönnte ihr die Enttäuschung, und obgleich sie immer noch entschlossen war, keinen
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