Gesang der Daemmerung
einzigen Ton zu singen, stieg der Gesangsprofessor doch ein wenig in ihrer Achtung.
Sereno erhob sich aus dem Sessel, um Marian die Hand zur Begrüßung zu reichen, ganz so, als wäre sie eine junge Lady. Sie hatte ihn in der Kirche nur flüchtig betrachten können. Jetzt stellte sie fest, dass er ein kräftiger und ziemlich groß gewachsener Mann war, der Anzüge aus gutem Tuch bevorzugte, jedoch statt eines Binders ein seidenes Halstuch trug. Er hatte dunkles glattes Haar, das in der Mitte des Schädels schon ziemlich dünn geworden war. Das Auffälligste an ihm waren jedoch die übergroßen braunen Augen. Die hängenden Lider verliehen ihnen einen verträumten Ausdruck, in Wirklichkeit aber war Sereno hellwach, und Marian hatte wieder das Gefühl, von seinem Blick verschlungen zu werden. Was wollte dieser Mensch von ihr?
»Marian Lethaby? Ich freue mich sehr …«
Sie knickste höflich. Mrs. Potter, die in ihrem Sessel sitzen geblieben war, wackelte mit den Augenbrauen und spitzte die Lippen, um ihrem Zögling anzudeuten, dass jetzt Beglückung und begeisterter Dank für den Besuch angebracht wären. Doch Marian tat, als bemerkte sie Mrs. Potters mimische Aufforderung nicht, und schwieg sich aus. Sie hatte keinen Grund, diesem Mann zu schmeicheln oder ihm gar dankbar zu sein. Weshalb also sollte sie lügen?
»Man hat dir gesagt, weshalb ich gekommen bin?«
»Ja, Mr. Sereno. Aber leider kann ich Ihren Wunsch nicht erfüllen. Meine verstorbene Mutter wollte nicht, dass ich singe, und ich werde ihren Willen in Ehren halten.«
»Marian!«, rief Mrs. Potter aufgebracht aus. »Entschuldige dich sofort bei Professor Sereno, und hör auf, diesen Unsinn zu reden! Natürlich wirst du ihm vorsingen! Los, los – geh hinüber zum Klavier, und zier dich nicht! Niemand wird dir den Kopf abreißen …«
Marian hatte geglaubt, der Professor würde über ihre Weigerung erstaunt sein. Ihr gut zureden. Vielleicht auch zornig werden. Doch er tat nichts dergleichen. Schweigend wandte er sich um und hob den Deckel der Klaviertastatur, zog den Schemel in die richtige Position und setzte sich an das Instrument. Bevor er zu spielen begann, sah er kurz zu Mrs. Potter hinüber, und dieser Blick genügte, um ihr das Wort im Munde abzuschneiden.
Wie warme Regentropfen fielen die ersten Töne in den Raum, schillernd wie bunte Perlen, sachte und doch stark wie ein Zauberbann. Sereno begann zu singen. Atemlos hörte Marian den Klang seiner dunklen weichen Stimme, spürte Sehnsucht und heiße Glückseligkeit, schmolz in unendlich tiefer Trauer dahin. Nie zuvor hatte sie geahnt, welche Empfindungen die Musik in ihr auslösen konnte. Auch hatte sie niemals vorher solch zauberhaft schönen Gesang vernommen. Auf solche Art singen zu können, musste das Wunderbarste sein, was einem Menschen auf Erden widerfahren konnte.
Als er das Lied beendet hatte, blieb Sereno für einen Moment unbeweglich sitzen, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände noch auf den Klaviertasten liegend, als lauschte er den Klängen nach.
»Ich wünschte, ich könnte es besser«, sagte er leise. »Frau Musika ist eine gestrenge Herrin, und ich habe ihr so manches Jahr treu gedient. Aber ich werde alt, und meine Stimme ist nicht mehr die, die sie einmal war.«
»Es war das Schönste, was ich je gehört habe«, stammelte Marian. »Was war das für eine Musik? Es klang so ernst und zugleich doch süß und voller Trauer. Ach, ich … ich kann es nicht mit Worten ausdrücken …«
Sie bemerkte erst jetzt, dass ihr Tränen über die Wangen liefen, und sie wischte sie verlegen mit dem Handrücken fort. Sereno verharrte immer noch in der vorgebeugten Körperhaltung, doch er drehte seinen Kopf in ihre Richtung und sah sie an. Sein Blick war jetzt ein völlig anderer, er schien sehr berührt von ihrer Ergriffenheit, und wenn sie sich nicht täuschte, dann hatte auch er feuchte Augen.
»Es ist ein Lied, das ein deutscher Komponist mit Namen Franz Schubert geschrieben hat. Ich liebe es sehr und hoffte, es würde dir gefallen …«
Wie zufällig erklangen wieder einzelne Töne auf dem Klavier, und Sereno lächelte sie an wie eine vertraute Freundin, während er den Anfang der Begleitung noch einmal spielte. War es die Macht dieser ernsten zarten Melodie oder ein unbekannter Zauberbann, mit dem dieser Mensch Marian belegt hatte? Wie von selbst drangen Töne aus ihrer Brust, ihre Kehle weitete sich, und noch bevor sie wusste, was sie tat, vernahm sie ihren eigenen Gesang. Sereno
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