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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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treffen wirst.«
    Als sie aus dem Salon trat, sah sie Miss Woolcrafts üppige Gestalt gleich einem großen grauen Kaffeewärmer davonschweben und hinter der Tür zu einem der Wirtschaftsräume verschwinden – vermutlich hatte sie an der Tür gelauscht.
    Marian blinzelte in die goldfarbenen Sonnenstrahlen, die durch ein offenes Fenster in den Flur fielen. Plötzlich verspürte sie ein ungeheures Glücksgefühl. Ja, sie würde singen lernen, die Musik war ihre Bestimmung! Vielleicht würde sie ja einmal an der Oper singen und eine berühmte Primadonna werden – das war auf jeden Fall besser, als irgendeine »gute Partie« heiraten zu müssen. Es war auch besser, als das ganze Jahr über mutterseelenallein auf dem einsamen Landsitz zu leben.
    Gut gelaunt lief sie ins Klassenzimmer hinüber, um nun auch ein wenig zu plaudern und die anderen zum Lachen zu bringen.
    Sie fand die Mädchen an den drei Fenstern verteilt und eifrig hinaus in den Garten spähend. Die Fenster waren schmal, und die Gardinen behinderten den Blick zusätzlich, sodass es immer wieder zu zornigem Geflüster kam und man sich gegenseitig beiseiteschob.
    »Was gibt’s da draußen denn zu sehen?«
    Gekicher war die Antwort – meine Güte, war Marian aber dumm, sie hatte tatsächlich überhaupt nichts mitbekommen!
    »Der neue Hausmeister, den Mrs. Potter eingestellt hat«, ließ Lisa sich endlich zu einer Erklärung herab. »Ich glaube, er ist noch ungeschickter als sein Vorgänger. Schau dir das an, er kommt nicht einmal mit einer Leiter zurecht!«
    Man vernahm einen dumpfen Schlag, alle Mädchen kreischten auf und hielten sich dann rasch die Hände vor die offenen Münder. Als Marian sich endlich einen Platz am Fenster erobert hatte, sah sie gerade noch, wie der unglückliche junge Mann unter einer umgestürzten Leiter hervorkroch.
    »Selbst schuld, wenn er meint, am Sonntagnachmittag das Dach flicken zu müssen«, bemerkte Lisa mitleidslos.

Kapitel 6
    »Es ist jammerschade«, seufzte Kate und zog das Cape enger um ihre Schultern. »Meine Eltern waren sehr erstaunt über Mr. Strykers ablehnende Antwort. Ehrlich gesagt, sie waren beleidigt.«
    Die Mädchen durften nach dem Abendessen noch ein wenig durch den Garten laufen, wobei sie allerdings die Wiese zu meiden hatten und auf den Wegen bleiben mussten. Von dem schönen Sonnenschein, der den ganzen Tag über geherrscht hatte, war jedoch wenig übrig. Es war kühl geworden, und der Abendwind trug winzige Regentröpfchen herbei. Die Mädchen gingen in kleinen Gruppen über die Gartenwege, einige hielten sich brav an den Händen, andere hüpften herum, und wenige ganz mutige bewarfen ihre Freundinnen mit Kieseln. Mrs. Crincle, die die Aufsicht hatte, ließ Milde walten – erfahrungsgemäß schliefen die Zöglinge besser ein, wenn sie zuvor an der frischen Luft gewesen waren.
    »Ganz so schlimm ist es nicht«, tröstete Marian, die neben Kate auf dem schmalen Pfad entlang des Kartoffelackers ging. »Wenn ich bei Professor Sereno die Kunst des Belcanto erlerne, werde ich auch in seinem Institut wohnen. Da könnten wir uns an den Sonntagen im Zoo treffen oder im Park spazieren gehen.«
    »Das ist nicht dasselbe«, murrte Kate. »Georges Haus ist nur wenige Schritte entfernt – wir hätten jeden Tag miteinander Tee trinken können. Aber da du jetzt eine berühmte Opernsängerin wirst, bin ich ja wohl sowieso abgeschrieben!«
    Ein Windstoß ergriff ihre wollenen Umhänge, und beide Mädchen hatten einen Moment zu tun, um ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen. Es war wirklich kühl, und die Regentropfen drangen langsam, aber sicher durch den Stoff.
    »Solch ein Unsinn!«, schimpfte Marian. »Ich will überhaupt keine berühmte Sängerin werden, ich will einfach nur singen lernen und musizieren. Für mich, nicht für andere Leute. Verstehst du das nicht?«
    Kate hatte sich umgedreht und sich die Kapuze über den Kopf gezogen – es war Zeit, zum Haus zurückzugehen, bevor sie ganz und gar durchweicht waren.
    »Ich verstehe nur, dass du heute Früh noch erzählt hast, du würdest keinen einzigen Ton singen«, meinte sie spitz. »Jetzt aber willst du auf einmal in Serenos Institut wohnen und dort die Kunst des Belcanto erlernen. Ich glaube nicht, dass mein Vetter George Lust hat, eine Bühnenkünstlerin zur Frau zu nehmen.«
    Marian reichte es langsam. Sie konnte ja verstehen, dass Kate gekränkt war – aber deshalb musste sie nicht so hochnäsig daherreden.
    »Du liebe Güte – weshalb lässt du mich
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