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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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spielte mit geschlossenen Augen, lauschte ihrer Stimme mit großer Aufmerksamkeit, und sein Klavierspiel trug sie voran. Wie war es möglich, dass sie dieses Lied nun fehlerfrei singen konnte, obgleich sie es doch nur ein einziges Mal gehört hatte? Jeder Ton, jede Silbe waren ihr vertraut, ohne dass sie begreifen konnte, woher dieses Wissen stammte.
    Als sie geendet hatte, blieb auch sie nun unbeweglich, spürte noch der Stimmung des Liedes nach, und plötzlich stieg eine Szene in ihr auf, die sie längst vergessen hatte. Ihre Mutter, die am Klavier saß und sang, die Hände auf den Tasten, den Oberkörper ein wenig zurückgelehnt, in ihrem langen Haar spielten gleißende Sonnenblitze. Ihre Mutter hatte dieses Lied gesungen, deshalb kannte Marian es so gut!
    »Na siehst du, Marian!«, platzte Mrs. Potter in ihre Träumerei hinein. »Es geht doch, wenn du dir ein wenig Mühe gibst!«
    Mit einem Schlag wurde Marian bewusst, dass man sie übertölpelt hatte. Sie hatte gesungen – und dabei hatte sie doch gerade noch stolz erklärt, dies auf keinen Fall tun zu wollen, weil ihre Mutter es ihr verboten habe.
    »Es … es war nur … ausnahmsweise. Wegen des Liedes …«, stotterte sie, doch sie spürte, dass sie unglaubwürdig und lächerlich geworden war. Ärgerlich kniff sie die Lippen zusammen und starrte den Professor am Klavier feindselig an.
    Doch auch Sereno war über Mrs. Potters Bemerkung wenig erfreut. Er holte tief Luft, als hätte er gern etwas Abfälliges bemerkt, hielt sich jedoch in kluger Vorsicht zurück und bedachte Mrs. Potter stattdessen nur mit einem unfreundlichen Blick.
    »Ich wollte dich nicht zu etwas verleiten, was du bereuen könntest, Marian«, erklärte er bedauernd. »Ich hatte vielmehr die Absicht, dir eine Tür zu öffnen. Die Tür zum Zauberreich der Musik und der Kunst des Gesanges. Ich habe dieser Kunst mein ganzes Leben geweiht, Marian, und ich wünschte sehr, dich dorthin mitnehmen zu dürfen. Niemand verdient es so sehr wie gerade du, mein Kind, denn die Vorsehung hat dich mit einer ungewöhnlich schönen Stimme ausgestattet.«
    Marian spürte, wie ihr Ärger sich bei seinen Worten auflöste. Dieser Mensch hatte zwar etwas Wunderliches an sich, aber er war ein beeindruckender Musiker. Vielleicht hatte er ja recht. Weshalb sollte sie sich dem Singen verweigern, nur weil sie sich über die lästige Mrs. Potter ärgerte? Damit brachte sie sich doch selbst um ein großes Glück.
    »Es war ganz außergewöhnlich schön und aufregend, Mr. Sereno. Ich wusste selbst nicht, dass ich so gut singen kann, aber es hat mir gefallen …«
    Jetzt zeichnete sich so etwas wie Triumph in den Zügen des Professors ab. Wenn sein Ziel tatsächlich darin bestanden hatte, in Marian die Liebe zur Musik zu wecken, dann hatte er es erreicht.
    »Es hat auch mir großes Vergnügen bereitet, Marian. Ich lasse dir nun ein wenig Zeit, um nachzudenken. Aber wenn du Lust hättest, ein Studium des Belcanto bei mir aufzunehmen, dann würde ich mich sehr freuen.«
    Er hatte sich vom Klavierschemel erhoben, während er dies sagte, und machte schließlich auch eine höfliche Verbeugung zu Mrs. Potter hinüber, die mit einem verbindlichen Kopfnicken beantwortet wurde. Mrs. Potter war heute mit ihrem Zögling Marian Lethaby sehr zufrieden.
    »Du kannst jederzeit in meinem Institut vorbeikommen, um dir die Arbeit dort anzuschauen«, fuhr Sereno zu Marian gewandt fort und fügte lächelnd in Mrs. Potters Richtung hinzu: »Ich bin sicher, dass Sie Marian die Erlaubnis dazu geben werden, meine liebe Mrs. Potter. Ich weiß doch, dass auch Sie eine leidenschaftliche Anbeterin der schönen Künste sind.«
    Er rannte offene Türen ein, denn Mrs. Potter hätte sich auch ohne dieses Kompliment gefügig gezeigt. So aber erklärte sie eifrig, dass ihre Zöglinge normalerweise unter strenger Aufsicht stünden und das Pensionat nur zum Kirchgang verlassen dürften.
    »In diesem Fall werde ich jedoch eine Ausnahme machen, lieber Professor. Sie haben ganz recht – für die Kunst müssen Opfer gebracht werden. Marian, verabschiede dich jetzt von Professor Sereno. Du wirst in der kommenden Woche sein Institut besuchen und dir alles genau anschauen …«
    Marian schien es fast, als hätte er Sorge, sie könnte es sich anders überlegen, denn er hielt ihre Hand beim Abschied für einen Moment fest und blickte ihr tief in die Augen.
    »Es liegt ganz an dir, Marian«, sagte er bedeutungsvoll. »Ich hoffe sehr, dass du die rechte Entscheidung
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