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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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klang fast verschwörerisch, so als gefiele es ihm, mit ihr Heimlichkeiten zu teilen. Marian fand, dass er ein Stück zu weit ging – immerhin war sie ein Zögling des Pensionats und er nur ein Angestellter. Sie bereute nun ihre Vertrauensseligkeit, stieg rasch die drei Stufen hinauf und schlüpfte an Mrs. Crincle vorbei durch die Tür.
    »Gütiger Himmel!«, hörte sie diese hinter sich ausrufen. »Wie kommen Sie zu diesem Schirm, Mr. Mills? Geben Sie ihn nur rasch her – der gehört Mrs. Potter!«
    Oh weh!, dachte Marian mitleidig. Da war der arme Bursche schon wieder ins nächste Fettnäpfchen getappt. Er war aber auch gar zu ungeschickt! Mrs. Potter war ausgesprochen empfindlich, was ihre Besitztümer anbelangte – ganz gleich, ob es sich um ihre mit Rosen bemalte Kaffeetasse, ihr persönliches Sitzkissen im Speiseraum oder um ihren Regenschirm handelte. Auch wenn Mrs. Crincle den Schirm jetzt zusammenfaltete und wieder in den Ständer stellte – Mrs. Potter würde sehr bald auffallen, dass ihr gutes Stück tropfnass war.
    Miss Woolcraft scheuchte die Mädchen hinüber in den Waschraum, wo sie sich für die Nacht fertig machen sollten.
    »Da bist du ja, Marian!«, rief Lisa belustigt aus. »Einen feinen Kavalier hast du dir da an Land gezogen! Wie brav er hinter dir hergelaufen ist und immer nur deinen Rücken angeschaut hat!«
    »Meinen Rücken?«
    Lisa zerrte sich das nasse Kleid herunter und warf es achtlos auf den Fußboden. In dem weiten Hemd und den langen spitzenbesetzten Unterhosen sah sie fast noch unförmiger aus, als wenn sie angekleidet war.
    »Ja, er hat dir immer zwischen die Schulterblätter gestarrt. Ich glaube, er war so verlegen, dass er nicht wagte, den Kopf zu heben. Ein Wunder, dass er nicht gestolpert ist …«
    »Ein wenig merkwürdig ist er schon. Aber ich glaube, er ist ein anständiger Bursche.«
    Lisa zog sich das lange Nachthemd über, und da Miss Woolcrafts gestrenger Blick auf ihr ruhte, entschloss sie sich, wenigstens das Gesicht mit etwas Wasser zu benetzen.
    »Ich wette, Mrs. Potter wirft ihn noch diese Woche hinaus«, blubberte sie und rubbelte sich dann umständlich mit dem Handtuch trocken. »Er taugt doch wirklich zu gar nichts!«
    Doch die schlaue Lisa täuschte sich. Nur wenige Tage später gab es ein aufregendes neues Gesprächsthema im Pensionat. Die Mädchen flüsterten in den Pausen, standen dicht gedrängt an den Fenstern des Klassenzimmers, um in den Garten zu schauen, und es wurde allgemein bedauert, dass in dieser Woche niemand in die Bibliothek hinaufgehen durfte. Von dort oben war eifriges Klopfen zu vernehmen – der Hausmeister war damit beschäftigt, die Vorhangstange wieder an der Wand zu befestigen.
    »Sie ist ganz sicher oben bei ihm«, flüsterte Lisa, und auch einige andere hielten das für möglich. »Die beiden sind ganz allein in der Bibliothek. Wer weiß, was sie dort tun …«
    »Wo sie doch gestern einträchtig im Garten spazieren gegangen sind«, meinte auch Kate, die ihren Ärger auf Marian inzwischen vergessen hatte.
    »Volle zehn Minuten standen sie neben dem Petersilienbeet beieinander! Und sie hat die ganze Zeit über mit ihm gesprochen …«
    »Na und? Mrs. Potter hat dem Hausmeister ein paar Anweisungen gegeben, weil das Dach geflickt werden muss.«
    Marian war so ziemlich die Einzige, die das Gerede für vollkommenen Blödsinn hielt – vielleicht auch deshalb, weil ihr der Gedanke nicht gefiel, der harmlose, unschuldige Mr. Mills könnte Mrs. Potter in irgendeiner Weise nähergetreten sein. Tatsache war jedoch, dass Mrs. Potter dem jungen Mann gegenüber unfassbar nachgiebig war und immer eine Erklärung bei der Hand hatte, wenn ihm wieder eines seiner Missgeschicke passiert war. So war er bei einem seiner erfolglosen Versuche, das Dach zu reparieren, rücklings in Mr. Crincles Rosenbeet gestürzt. Wobei er zwei der neu gepflanzten, altrosa blühenden Edelrosen ruiniert hatte.
    »Ich bekomme Kopfschmerzen, sobald dieser Mensch auch nur in meiner Nähe auftaucht!«, schimpfte Mrs. Crincle und berichtete, ihr Mann bekäme in Mr. Mills’ Gegenwart sogar Schüttelfrost. Das könnte nur daran liegen, dass dieser Mensch ständig irgendwelches Unheil anrichtete, gewiss nicht mit Absicht, sondern aus mangelnder Vorsicht. Tatsächlich hätte er bereits zwei hölzerne Leitern und mehrere Werkzeuge ruiniert, außerdem einen kleinen Spiegel zerbrochen, den er aus dem Salon mitgenommen hatte, um den goldfarbenen Rahmen zu reparieren. Was Mr. Mills
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