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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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unterdrücktes Kichern, Gwendolyn war ganz und gar verstummt, und von Kates Lager waren tiefe regelmäßige Atemzüge zu vernehmen. So war es immer mit Kate: Gerade eben redete sie noch wie ein Wasserfall, und zwei Sekunden später lag sie in tiefem Schlaf.
    Marian drehte sich wieder auf den Rücken und starrte hinauf zu den verwaschenen Schattengebilden, die das flackernde Nachtlicht an die Decke warf. Ärgerlich stellte sie fest, dass die Müdigkeit, die sie während Kates Geschwätz empfunden hatte, inzwischen verflogen war. Dafür hatte sich das lästige Herzklopfen wieder eingestellt, und zu allem Überfluss glaubte sie, ein Klirren und Poltern zu hören, das sie auf beängstigende Weise an die Vorgänge im Garten des Professors erinnerte. Klang das nicht so, als träfen metallische Gegenstände aufeinander? Als sprängen dort oben auf dem Dach Leute herum? Aber wenn dem so wäre, dann würden es doch auch die anderen Mädchen hören, vor allem die Lehrerinnen und Mr. Mills, der Hausmeister. Konnte es sein, dass nur sie allein diese Geräusche wahrnahm?
    Sie verspürte jetzt solche Angst, dass sich ihr die Kehle zuschnürte und sie kaum noch schlucken konnte. Noch vor einigen Stunden hatte sie es gar nicht als so schlimm gefunden, ein krankes Herz zu haben – jetzt aber wurde ihr bewusst, dass sie möglicherweise bald sterben musste. Ach, sie lebte doch so gern, und seit sie wusste, dass sie singen lernen würde, erschien ihr die Zukunft in leuchtenden Farben!
    Aber vielleicht war sie ja gar nicht krank. Vielleicht gab es tatsächlich Geistwesen, und sie hatte die Fähigkeit, sie zu hören und zu sehen.
    Der Zweig fiel ihr plötzlich ein, der sich in ihrer Kleidung festgehakt hatte, sodass sie glaubte, eine Hand hätte nach ihr gegriffen. War es tatsächlich ein Zweig gewesen? Jetzt, da sie mit geschlossenen Augen dalag und auf die seltsam fremden Geräusche lauschte, tauchten weitere Erinnerungen aus der Dunkelheit ihrer Ohnmacht auf. Schwerter hatte sie gesehen, scharf geschliffen und von merkwürdig blauer Farbe. Wenn sie aufeinanderschlugen, zuckten Blitze auf, doch die Arme, die die Schwerter führten, waren bräunlich wie der Flussnebel, der von der Themse herübergezogen war. Wer auch immer dort gekämpft hatte – es hatte sich nicht um Menschen, sondern um Geister gehandelt!
    Wirkliche Geister – oder nur Vorspiegelungen ihrer Fantasie, Wahnvorstellungen eines kranken Herzens? Es wurde Marian heiß unter der Decke, das wirre hellblonde Haar klebte an Hals und Wangen. Sie hätte doch besser einen Zopf geflochten, aber gerade heute Abend war sie zu faul dazu gewesen. Nach dem Abendessen, als sie mit ihren Freundinnen in den Garten laufen wollte, hatte Mrs. Potter sie zu sich ans Kopfende des Tisches gewunken. Während die Mädchen der gelben Gruppe – das waren die Kleinen – Teller und Schüsseln in die Küche trugen, hatte Marian vor Mrs. Potter zu stehen und über ihren Besuch bei Professor Sereno zu berichten.
    »Ich hoffe, du hast einen guten Eindruck hinterlassen, Marian! Der Professor scheint in Bezug auf dich gewisse Erwartungen zu hegen. Wieso das so ist, kann ich mir zwar nicht erklären, aber für dich ist es ein großes Glück. Bei dem, was du an Mitgift bekommst, ist gewiss keine besonders gute Partie zu erwarten …«
    »Aber ich erbe einen Landsitz, Mrs. Potter! Keinen sehr großen, aber immerhin …«
    »Gewiss, mein Kind«, erwiderte Mrs. Potter, die auf einmal zerstreut schien. »Aber das Land ist heutzutage nicht mehr so wertvoll, wie es in den Tagen deines Vaters war. Zumal Yorkshire doch eine sehr abgelegene Gegend ist …«
    Sie hatte es jetzt eilig, Marian zu den anderen Mädchen in den Garten zu schicken, und lief in die Küche, wo Mrs. Crincle die Aufsicht über den Abwasch führte.
    »Schicken Sie mir den Hausmeister, Mrs. Crincle! Die Tür der Bibliothek knirscht fürchterlich in den Angeln, und im Klassenzimmer der grünen Gruppe sind zwei Stühle defekt …«
    Der arme Mr. Mills hatte fast den ganzen Abend über die schweren blechernen Gießkannen schleppen müssen, weil Mr. Crincle der Meinung war, das frisch gesetzte Gemüse wäre am Vertrocknen. Jonathan Mills hatte große Mühe mit den Kannen, sein schmaler knochiger Körper schien sich unter ihrer Last zusammenzufalten, die Knie knickten ein Stück ein, und sein Gang erinnerte an eine müde Ente. Marians Freundinnen hatten unbarmherzig über den armen Burschen gelacht und boshafte Scherze geflüstert. Als Marian

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