Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
Vom Netzwerk:
bist du stumm? Kennst du die englische Sprache nicht? Oder sprichst du nicht mit jedem? Bin ich dir nicht alt genug? Nicht hübsch genug? Hättest du lieber mit Mrs. Potter geredet?«
    »Hör auf, solchen Lärm zu machen, Marian!«
    Jetzt hätte sie vor Schreck fast die Laterne fallen gelassen. Er hatte tatsächlich zu ihr gesprochen, leise und mit weicher, ein wenig heiserer Stimme. Es klang ungehalten, fast ärgerlich, zugleich nahm der Nebel Konturen an und verdichtete sich zu seiner ursprünglichen Gestalt.
    »Wenn du mir gleich geantwortet hättest, wäre das ganze Theater nicht nötig gewesen!«, stellte sie lehrerhaft fest.
    Er schien geschlagen, gab den Widerstand auf und ging zum Tisch hinüber, um sich wieder zu setzen. Mit Unbehagen stellte sie fest, dass er einschüchternd groß und kräftig war, zudem trug er über dem dunklen Kettenhemd einen Gürtel, von dem eine Schwertscheide herabhing. Der Knauf des Schwertes ragte daraus hervor, er war von seltsamer Form, glich einem Vogelkörper, der die Flügel angelegt hatte. Eine Eule?
    »Also frag, was du wissen willst!«
    Nicht nur der Laternenschein machte ihm Schwierigkeiten. Jetzt bemerkte Marian, dass er auch ihrem Blick auswich. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie ihn für eine Weile fest ansah.
    »Gut«, triumphierte sie, »wer oder was bist du?«
    »Wozu musst du das wissen?«
    »Man beantwortet eine Frage nicht mit einer Gegenfrage!«
    »Weshalb nicht? Auch eine Gegenfrage kann eine Antwort sein.«
    Unfassbar – er unternahm immer noch Ausflüchte! Jetzt glaubte sie sogar, ein leicht amüsiertes Grinsen in seinen blassen Zügen zu erkennen. Er hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und die Arme über seiner Brust gefaltet – auch das gefiel ihr nicht, denn es zeugte von allzu viel Selbstbewusstsein. Wollte er sich am Ende nur über sie lustig machen?
    »Es ist für mich sehr wichtig, darüber Klarheit zu gewinnen«, erklärte sie ernsthaft.
    »Nun«, meinte er gedehnt und machte wieder einen kurzen Versuch, ihr in die Augen zu sehen. »Ich bin nichts weiter als eine Ausgeburt deiner Fantasie, Marian. Ein Traumgebilde. Ein Nebelschweif. Ein Nichts. Du solltest keinen einzigen Gedanken an mich verschwenden.«
    Er log sie an, dessen war sie sich sicher. Sie trat näher, bis nur noch die Tischplatte sie trennte, und stellte die Laterne darauf ab. Er drehte den Kopf zur Seite, als das Licht direkt auf sein Gesicht fiel, und sie bemerkte erst jetzt, dass er eine frische Verletzung an der rechten Schläfe hatte. Ein kleiner Ritz war es, wie mit der Spitze eines Messers gezogen, nicht länger als zwei Inches.
    »Ein Traumgebilde?«, meinte sie kopfschüttelnd. »Das habe ich geglaubt, als ich dich im Garten sah …«
    »Du hast mich im Garten gesehen? Wann?«
    »Am gleichen Tag, als du im Schlafsaal herumgelaufen bist. Du hast unter der alten Eiche gestanden.«
    Er unternahm einen wenig überzeugenden Versuch zu lachen.
    »Da siehst du einmal, wie lebhaft deine Fantasie ist, meine Kleine! Du hast sogar am hellen Tag geträumt.«
    »Dann träume ich wohl auch jetzt noch, wie?«, begehrte sie auf.
    »Natürlich«, behauptete er gelassen. »Du gehörst zu jenen Menschen, die schlafend aus dem Bett steigen und im Haus umherlaufen. Eine gefährliche Angewohnheit, dieses Träumen mit offenen Augen. Du solltest jetzt besser wieder hinuntergehen und dich hinlegen, bevor du noch zum Fenster hinaussteigst oder auf das Dach kletterst.«
    Glaubte er tatsächlich, was er da redete? Zumindest brachte er diese lächerliche Geschichte mit großem Ernst hervor. Im Grunde aber handelte es sich – oh, sie durchschaute ihn! – nur um einen Trick, mit dem er sich die Freiheit erschleichen wollte. Aber da hatte er Pech – sie würde ihm die Wahrheit schon entlocken, und wenn sie ihn bis zum Morgen hier festbannen musste! Du meine Güte – sie war jetzt vollkommen sicher, dass sie nicht träumte! Sie war auch nicht herzkrank. Vor ihr am Tisch saß ein wahrhaftiger Geist, hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und bemühte sich mit allerlei Geschwätz, sie zum Narren zu halten.
    »Ich sollte also besser nicht aufwachen, bevor ich wieder im Bett liege?«, fragte sie scheinbar harmlos nach, ließ die Laterne vor ihm stehen und ging langsam um den Tisch herum.
    »Ganz genau. Du könntest nämlich beim Aufwachen so erschrecken, dass du stolperst oder gar die Treppe hinunterfällst.«
    Marian ließ ihn nicht aus den Augen, während sie um das Kopfende des Tisches schritt und

Weitere Kostenlose Bücher