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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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Sitte von Kerzen und Öllampen erhellt.
    Marian hoffte sehr, dass während der folgenden halben Stunde niemand die Toilette aufsuchen musste, denn sie würde die kleine Laterne jetzt mitnehmen. Geräuschlos huschte sie auf nackten Sohlen durch den Flur und bemerkte vor Aufregung nicht einmal, wie eisig kalt sich der geflieste Boden anfühlte. Einige Treppenstufen knarrten unter ihrem Gewicht, und sie begriff, dass es klüger war, den Fuß nicht in die Mitte der Stufe, sondern an die Seite zu setzen. Während sie so leise wie möglich an den Schlafkammern des Gesindes vorbeischlich, spürte sie ein Zittern am ganzen Körper. Es war nicht die feuchte kühle Nachtluft, die sie erschaudern ließ, sondern die Finsternis jenseits des kleinen Lichtkegels der Laterne. Die schwere eingelegte Tür zur Bibliothek knarrte, als sie sie öffnete. Sie hatte es eilig, in den Raum zu schlüpfen und die Tür hinter sich zuzuziehen, weil sie fürchtete, eine Magd könnte das Licht im Flur sehen und sie erwischen.
    Mit der Tür im Rücken blieb Marian stehen. Um zu dem Bücherschrank zu gelangen, wo der dicke Foliant zwischen Atlanten und Wörterbüchern stand, würde sie an dem großen Tisch aus Eichenholz vorbei zum hinteren Bereich der Bibliothek gehen müssen. Kein angenehmer Gang mit dem kleinen Licht in der tiefen Dunkelheit des Raumes – aber sie war entschlossen, sich weder durch Schatten noch durch wehende Vorhänge von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen. Vorsichtig hob sie die Laterne an, um wenigstens einen kleinen Teil des Zimmers auszuleuchten, dann erstarrte sie.
    Am Tisch saß eine männliche Gestalt. Sie sah die Konturen nur für einen kleinen Augenblick, dann driftete der Lichtschein von der Erscheinung fort, weil Marians Arm vor Schreck zitterte. Weglaufen – war ihr erster Gedanke. Den Türknauf drehen, den sie im Rücken spürte, und sich in den Flur retten, die Treppe hinunter, zurück in das schützende Bett im großen Schlafsaal, wo sie zwischen den anderen Mädchen geborgen war. Doch das wilde Pumpen ihres Herzens stimmte sie nachdenklich. Vermutlich würde sie in Ohnmacht fallen oder gar sterben, bevor sie noch die Treppe erreichte.
    Was bin ich für ein Hasenfuß!, dachte sie. Es wird eine Sinnestäuschung gewesen sein. Reverend Jasper hat vielleicht seine Jacke auf einem Stuhl vergessen. Oder Mr. Mills seine Werkzeugtasche …
    Tatsächlich gehorchte ihr der Arm jetzt wieder, der Lampenschein wanderte zurück zum Tisch. Es hatte sich nicht um eine Täuschung gehandelt, dort saß ein nächtlicher Bibliotheksbesucher.
    Jetzt erst erkannte sie ihn. Er trug nicht mehr den merkwürdigen Gehrock, sondern ein dunkles glatt anliegendes Gewand, das einem mittelalterlichen Kettenhemd ähnelte. Sein schulterlanges Haar erschien ihr ziemlich zerwühlt, das Gesicht bleich, die schwarz umschatteten Augen waren mit einem Ausdruck auf sie gerichtet, der etwas von einem ertappten Dieb hatte. Plötzlich wurde Marian klar, dass der fremde Gast über dieses Zusammentreffen mindestens ebenso erschrocken war wie sie selbst. Sie sammelte sich.
    »Bist … bist du ein Geist?«
    Sie hatte allen Mut zusammennehmen müssen, um diese Frage zu stellen, und war nun maßlos enttäuscht, weil er keine Anstalten machte, ihr zu antworten. Stattdessen begann seine Gestalt, sich aufzulösen, wurde grauer, die Konturen verschwammen, der Körper wurde durchsichtig wie Rauch.
    »Nein!«, rief Marian und tat einen Schritt in seine Richtung. »Bleib! Bitte bleib doch! Sag mir, ob du ein Geist bist …«
    Er schien nicht willens, auf ihre Bitte einzugehen, im Gegenteil: Je näher sie zu ihm ging, desto eiliger hatte er es damit, sich vor ihren Augen in Nebeldunst zu verwandeln. Ganz offensichtlich hatte er Furcht vor ihr und versuchte zu verschwinden. Diese Erkenntnis steigerte ihren Mut.
    »Ich würde auch gern wissen, weshalb du mich im Schlafsaal so angestarrt hast!«
    Der Nebel schwankte ein wenig und schien dann zum Fenster hinüberziehen zu wollen. Marian hob die Laterne, und der Lichtschein schnitt ihm den Weg ab. Aha – er fürchtete das Licht! Nun – sie würde sich diese Tatsache zunutze machen.
    »Ein Gentleman bist du wirklich nicht!«, schimpfte sie. »Es ist sehr unhöflich, einer jungen Dame keine Antwort zu geben.«
    Er hatte keine Chance bei diesem Spiel. Sooft er auch versuchte, dem Schein der Laterne zu entwischen – Marian fing ihn immer rechtzeitig ein, bevor er in die Dunkelheit entfliehen konnte.
    »Jetzt rede schon! Oder

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