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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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jedoch für ihn eintrat, ging das Theater erst recht los.
    »Solch eine Fahrt mit dem Hansom kann zwei Leute einander nahebringen!«
    »Schaut doch mal, wie rot sie jetzt wird! Er ist gewiss ein feuriger Verehrer, nicht wahr?«
    »Hat er dich auf den Mund geküsst?«
    »Aber nein! Dabei hätte er sie doch mit seiner langen Nase aufgespießt!«
    »Er hat vielleicht Ring und Stöckchen mit ihr gespielt …«
    »Im Hansom? Du liebe Güte …«
    Das Gelächter, bei dem einige der Mädchen hysterisch aufkreischten, wurde schließlich von Mrs. Crincle unterbunden. Was es da wohl zu lachen gäbe, schalt sie zornig. Auch Marian hatte das nicht begreifen können, ebenso wie viele andere der Mädchen. Doch diejenigen, die gelacht hatten, kicherten immer noch und sahen mit höhnisch-wissenden Blicken auf die ahnungslosen Mitschülerinnen herab.
    Bis auf diesen Vorfall war es angenehm im Garten gewesen. Sie hatte Emily und Lisa von Serenos Unterricht und von seinen Schülern erzählt. Später waren sie zu den alten Bäumen hinübergelaufen und hatten gemeinsam auf der Wiese nach Gänseblümchen gesucht. Alles war friedlich und schön gewesen, kein Herzklopfen, keine beweglichen Schatten, keine Geister.
    Leise, um niemanden zu wecken, setzte Marian sich auf ihrem Lager auf und sah zu dem Nachtlicht hinüber. Die Laterne, die neben der Tür auf einem Schemel stand, flackerte unruhig – wahrscheinlich war der Kerzendocht zu lang. Sie lauschte und war erleichtert, dass die unheimlichen Geräusche nun verstummt waren. Ihr Herz klopfte allerdings immer noch rascher und lauter als gewöhnlich.
    An Schlaf war nicht zu denken. Neidisch sah sie zu Kate und Lisa hinüber, die zusammengerollt und mit heißen Wangen in ihren Betten schliefen. Emily hatte sich wie immer ihr Zopfende in den Mund gesteckt, und Gwendolyn schlief auf dem Rücken liegend, steif wie eine Tote, die Hände über der Brust gefaltet. Irgendwo murmelte ein Mädchen unverständliche Worte im Schlaf, an der Saaldecke tanzten die Schatten zweier Fliegen, die um das Nachtlicht kreisten.
    Ein Arzt hätte wohl herausfinden können, ob sie wirklich herzkrank war. Aber würde Mr. Strykers bereit sein, eine Untersuchung zu bezahlen? Auch wenn es nicht sein eigenes, sondern ihr Geld war, hatte Marian doch schon erlebt, dass ihr Vormund geizig sein konnte. Im vergangenen Herbst hatte er ihr sogar die neuen Winterstiefel verweigert, und sie hatte in den alten Schuhen laufen müssen, die an mehreren Stellen Löcher aufwiesen. Ein Arzt, besonders ein Spezialist, kostete gewiss viel Geld. Und wie sollte sie Mrs. Potter und Mr. Strykers von der Notwendigkeit einer Untersuchung überzeugen? Außer dieser Ohnmacht im Garten des Professors konnte sie nur von seltsamen Wahrnehmungen erzählen, höchstens das häufige Herzklopfen könnte Eindruck machen.
    Ob man sich bei solch einer Untersuchung etwa auskleiden musste? Bis auf das Unterhemd? Oder sogar noch weiter? Wieder wurde ihr heiß. Nein – besser keine Untersuchung, kein Arzt! Lieber wollte sie irgendwann tot umfallen – wenn sie ein krankes Herz hatte, konnte ein Arzt ihr sowieso nicht helfen. Aber vielleicht war es ja gar nicht ihr Herz. Vielleicht gab es ja tatsächlich Geistwesen … Marian stöhnte auf – wenn sie doch endlich Klarheit gewinnen könnte! Nichts war schlimmer, als ständig in dieser Ungewissheit zu leben.
    Das dicke medizinische Buch in der Bibliothek fiel ihr ein. Dort stand ganz sicher auch etwas über Herzkrankheiten geschrieben. Vielleicht war es ja möglich, auch ohne Doktor etwas über ihren Gesundheitszustand zu erfahren. Sie zögerte einen Moment, denn es war den Zöglingen streng verboten, in der Nacht im Haus herumzulaufen. Dann aber wurde ihr klar, dass heute Montag war – bis zum nächsten Sonntagnachmittag waren es noch sechs Tage. So lange würde sie die Ungewissheit nicht ertragen.
    Auf bloßen Füßen, das lange Nachthemd eng um den Körper gezogen, lief Marian durch den langen Saal und öffnete leise die Tür. Bis hierher war die Sache ungefährlich – es war schließlich nicht verboten, in der Nacht die Toilette aufzusuchen. Im Flur stand für diesen Zweck eine Nachtlaterne bereit, die man in die Hand nahm, um damit die entsprechende Örtlichkeit auszuleuchten. Das Haus besaß zwar einen Gasanschluss, aus Gründen der Sparsamkeit gab es jedoch nur in Mrs. Potters Wohnbereich, in den Klassenräumen und im Speisesaal Gaslampen. Alle übrigen Räume und auch die Flure wurden nach alter Väter

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