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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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Nachtschatten dem ersten zu Hilfe gekommen wären. Es waren zwei seiner Kameraden, er kannte die Gesichter gut, hatte oft mit den beiden zusammengesessen, gelacht und geprahlt. Jetzt kämpften sie unter dem Befehl des Boten gegen ihren einstigen Freund, gleichmütig und ohne Mitgefühl, so wie man es ihnen beigebracht hatte.
    Dass er gebunden wie ein Wickelkind hinter seinen Besiegern her durch die Luft gezerrt wurde, erfüllte ihn mit Scham über die schmähliche Niederlage. Dass dies nur den harmlosen Anfang einer Serie weit schlimmerer Demütigungen darstellen würde, ahnte er da noch nicht.
    Man hielt Gericht über ihn. Im großen Saal saß Gorian inmitten seiner sechs Ratgeber auf einem Thron aus grauem Bergkristall, dem uralten Herrschersitz der Nachtschatten. Sie trugen lange feierliche Gewänder aus Samtbrokat, der von den Frauen in den kleinen Bergdörfern gewebt wurde, und auch die Krieger, die der Verhandlung als Zuhörer beiwohnten, waren festlich gekleidet. Dem Angeklagten hatte man jedoch Kettenhemd und Schwert genommen, und das Tuch der Nacht, das seinen Körper umschloss, war voller Schmutz und an einigen Stellen sogar zerrissen.
    Quer durch den großen Saal floss der unterirdische Fluss Kairon, der sich brausend in einen tiefen Felsschlund stürzte und auf verschlungenen Wegen durch das Gestein zum Meer hinausströmte. Darion hatte viele Male in diesem Saal gestanden und feierliche Zeremonien miterlebt. Er kannte auch die schwarzen Wellen des Flusses, die einmal gewaltig brausten und zischend den Boden des Saales nässten, zu anderen Zeiten jedoch harmlos und leise dahinplätscherten. Am Tag des Gerichts schien es ihm, als schwiege das Gewässer nur dann, wenn Gorians Ankläger sprach. Wenn aber Darion das Wort erteilt wurde, übertönte das anschwellende Gewässer seine kurzen Verteidigungsversuche.
    Es existierte im Grunde auch nicht viel, was er zu seiner Verteidigung hätte anführen können. Es gab nur Fragen, die er gern gestellt hätte, von denen er jedoch wusste, dass es sich um verbotene Fragen handelte. Vielleicht fürchtete Gorian solche Fragen, die die andächtig lauschenden Zuhörer verwirrt hätten, und er hatte den Fluss aus diesem Grund gezwungen, die Worte des Angeklagten unhörbar zu machen? Darion spürte bald, dass es keine Rettung für ihn gab, er hatte Gebote übertreten und entscheidende Fehler gemacht, große Schuld auf sich geladen und Strafe verdient. Nicht nur die aufgebrachten Reden des Anklägers machten ihm seine aussichtslose Lage deutlich. Er las seinen Untergang vor allem in den Gesichtern der Krieger, die die Verhandlung atemlos und mit zunehmender Empörung verfolgten. Zuletzt hoben sogar einige die Faust und zischten Darion wütende Beleidigungen zu. Verräter! Abtrünniger! Überläufer! Feiger Knecht einer Lichtelbenhure!
    Wären es nur die älteren Krieger gewesen – es hätte ihm nicht so viel ausgemacht. Doch gerade diese verhielten sich stiller, hörten nur zu und nickten grimmig vor sich hin. Die jungen Burschen, seine Freunde und Kameraden, waren die lautesten Zuhörer, ergingen sich in Schmähungen, und fast schien es ihm, als wetteiferten sie miteinander, um vor Gorian auf diese Weise ihre Treue zu beweisen.
    Man sprach ihn schließlich schuldig, einen Abtrünnigen verschont zu haben und den Verführungskünsten einer Lichtelbin erlegen zu sein. Das Strafmaß lag allein bei Gorian, der während der gesamten Gerichtsverhandlung kein einziges Wort gesprochen hatte. Keiner der Zuhörer interessierte sich weiter dafür, was mit Darion geschehen würde. Man verließ den Saal im vollen Vertrauen, dass der Herr der Nachtschatten den verurteilten Verräter wohl angemessen bestrafen würde.
    Darion hatte geglaubt, in einen der unterirdischen Keller gesperrt zu werden, und war darüber in Verzweiflung geraten, denn auf diese Weise würde er zwar am Leben bleiben, aber Marian niemals wiedersehen. Er hatte ihr Beschützer sein wollen – das hatte er gründlich verpatzt. Marian, die hinreißend zarte Elbin, die er in seinen Armen gehalten, deren silbrige Haut er mit seinen Lippen gekostet hatte, sie würde nun ohne Schutz bleiben. Gorian, der Herr der Nachtschatten, verfolgte seine Pläne mit ihr, und es sah ganz danach aus, dass er, Darion, keine Chance mehr erhalten würde, sich einzumischen. Aber wenn es denn so sein musste, dann wäre er lieber gestorben, als Tag und Jahr in dem Bewusstsein weiterzuleben, dass er sie durch eigene Schuld für immer verloren

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