Gesang der Daemmerung
einem einzigen weiten Sprung war er dem Lichtkreis der Laterne entkommen. Sie hörte, wie einer der Fenstervorhänge bewegt wurde, sehen konnte sie es nicht, denn das Licht reichte nicht bis dorthin.
»Ich bin Darion«, hörte sie seine Stimme. »Darion, ein Geist der Nacht.«
Der Fensterflügel gab ein knarrendes Geräusch von sich, was daran lag, dass das Holz bei Nebel und Feuchtigkeit immer wieder aufquoll. Neugierig lief Marian mit der Laterne zum Fenster, um zu sehen, wie er wohl aus dem Gebäude entkam. Kletterte er die Fassade hinunter? Oder konnte er vielleicht sogar fliegen? Doch als sie den Vorhang zurückgeschoben hatte und sich aus dem offenen Fenster beugte, erkannte sie nur die bizarr geformten Mondschatten der alten Bäume im silberfarbenen Gras der Wiese.
Vermutlich war er wieder zu Nebel geworden und schwebte mit den Wolken davon. Wie auch immer – er würde ganz sicher bald zu ihr zurückkommen. Schließlich hatte er versprochen, sie zu beschützen.
Während sie leise die Tür der Bibliothek öffnete, um in den Schlafsaal zurückzugehen, stieg ein großes belebendes Glücksgefühl in ihr auf.
Sie war vollkommen gesund. Keine Wahnvorstellungen, kein krankes Herz! Die Sache war so, dass es tatsächlich Geistwesen gab, und sie, Marian, besaß die Fähigkeit, sie wahrzunehmen.
Es war gar nichts dabei, Geister sehen zu können. Ganz im Gegenteil, es war wundervoll. Darion – was für ein Name! Darion. Darion. Darion …
Kapitel 11
Schmerzhafter als tausend Pfeile durchbohrten die gleißenden Lichtstrahlen ihn. Die kleine Gebirgsmulde war wie eine halbrunde Schüssel geformt, der Glimmerschiefer warf die Sonnenstrahlen vielfach zurück, ließ sie bündelweise von allen Seiten auf seinen nackten Körper treffen. Am Anfang hatte er sich an den Fels gepresst und geglaubt, auf diese Weise eine geringe Erleichterung zu finden, doch er irrte. Es gab keinen Schatten in dieser tückischen Felsschüssel, nur die glühend heißen Steinwände, das feindselige Gewirr der hin und her schießenden Sonnenpfeile und das Licht. Das Licht, das seinen Körper versengte und ihm alle Kraft raubte. Das Licht, das wie geschliffener Stahl durch seine Haut schnitt, ihm den Atem nahm und sein Hirn austrocknete.
Er hatte keine Ahnung, wie lange diese Strafe währen sollte. Zu Anfang hatte er die Nächte gezählt, die kurz waren und wenig Erholung brachten. Später war das Licht schon so tief in ihn eingedrungen, dass er auch in den Nächten von gleißenden Strahlen geplagt wurde, und er hatte jede Zeitrechnung verloren. Entkräftet hockte er in der Mitte der Felsmulde, die Stirn auf die angezogenen Knie gepresst, das herabhängende schulterlange Haar schützte das Gesicht wie ein Vorhang. Die Augen wenigstens wollte er vor dem sengenden Licht bewahren, das mühelos durch die Lider drang und seine Sehkraft zerstörte. Wenn es zu Gorians Plan gehörte, ihn erblinden zu lassen, dann würde er lange, sehr lange darauf warten müssen.
Man hatte ihm von dieser Art der Bestrafung erzählt, als er noch ein unbedarfter junger Bursche gewesen war und seine Ausbildung zum Krieger begonnen hatte. Ihre Ausbilder hatten ihnen auch die engen Mulden im Fels gezeigt, in denen Unglückliche hockten, tagtäglich dem glühenden, sengenden Licht ausgesetzt, die grausamste denkbare Folter für einen Nachtschatten. Er hatte die Delinquenten, die ja selbst schuld an ihrem Schicksal waren, damals wenig bedauert und mit den Kameraden über sie Scherze gemacht, davon geredet, dass die Burschen dort schön geröstet und gegart würden, wie eine Mittagsmahlzeit im Kochtopf vor sich hinschmurgelten. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass er selbst einmal dieser grausamen Folter ausgesetzt sein würde.
Er hatte sich wie ein Dummkopf übertölpeln lassen. In seiner Eile, aus dem Fenster der Bibliothek in die Nacht hinaus zu gelangen, hatte er alle Vorsicht vergessen und war dem von Gorian ausgesandten Botenkrieger geradewegs in die Arme geflogen. Er hatte richtig vermutet: Der Krieger, der ihn und den Abtrünnigen im Gespräch überrascht hatte, hielt sich nicht zufällig in der Gegend auf, es war ein Abgesandter des Herrn der Nachtschatten. Der Bursche hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn anzureden, sich vorzustellen und seine Botschaft auszurichten. Nein, er hatte ihn ohne Umschweife von hinten überfallen. Dennoch hätte Darion gute Chancen gehabt, den Angreifer niederzumachen und zu entkommen, wenn nicht zwei weitere
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