Gesang der Daemmerung
dir in den Sinn kommt, Marian.«
Es war schon merkwürdig, dass er diese langweiligen alten Notenblätter immer nur ihr vorlegte. Die anderen Schüler traktierte er niemals damit.
»Aber danach arbeiten wir noch ein wenig an der Händel-Arie, ja?«
Sie war ganz vernarrt in die Arie »Er weidet seine Herde …« aus dem »Messias«, die so zart und lieblich dahinfloss. Wie hübsch würde sie in der kleinen Kirche St. Jacob klingen! Ach, es war zu ärgerlich, dass Sereno sie dort nicht auftreten lassen wollte! Weshalb denn nur? Sang sie so schlecht, dass er Sorge haben musste, sich mit ihr zu blamieren?
»Versenk dich in die Töne, Marian! Konzentriere dich! Bitte!«
»Ja, Mr. Sereno …«
Im Gegensatz zu vielen anderen Schülern hatte sie niemals Mühe, eine Melodie vom Blatt zu singen. Sie brauchte kaum hinzuschauen, denn sie spürte instinktiv, wohin sich die Töne bewegen würden, und sie irrte sich niemals. Diese alte Weise, die Sereno offensichtlich selbst irgendwo abgeschrieben hatte, war wieder einmal ausgesprochen einfältig, ohne jeglichen Reiz. Dennoch bemühte sie sich ihrem Lehrer zuliebe um ein wenig Intensität. Wie es schien, lagen ihm diese alten Sachen ja sehr am Herzen.
»Vergiss alle Technik, und lass die Töne klingen, Marian! Wie flüssiges Silber soll deine Stimme sein. Wie ein gleißender Strom, auf dem das Sonnenlicht liegt. Lass kleine Fünkchen sprühen, lass die Wellen tanzen, das Wasser sprudeln …«
Er spielte ein paar leise Akkorde zur Begleitung, und seine großen Augen mit den hängenden Lidern blickten sie flehentlich an. Du meine Güte – aus dieser albernen Melodie würde im Leben kein silberner Strom werden, und wenn sie sich noch so viel Mühe gab! Um ihm eine Freude zu machen, improvisierte Marian ein wenig, erdachte Ausschmückungen und Schnörkel und fand, dass ihre eigenen Einfälle weitaus schöner klangen als die Weise, die Sereno ihr präsentiert hatte.
Bald konnte sie seinen eindringlichen Blick nicht mehr ertragen und schaute lieber aus den Erkerfenstern, während sie weitersang. Der verwilderte Garten war inzwischen zu einem durchsichtigen Gewirr kahler Äste und Zweige geworden, ein Gespinst, das morgens hin und wieder mit weißlichem Raureif überzogen war. Die schrägen Strahlen der Morgensonne ließen die winzigen Eiskristalle jedoch nur für kurze Zeit glitzern, allzu schnell schmolz die winterliche Pracht dahin. Jetzt, am frühen Nachmittag, begann es schon wieder, dämmrig zu werden, und Marian entdeckte eine gebückte Gestalt, die mit einem Rechen zwischen den Büschen das Laub zusammenkehrte.
Der arme Jonathan Mills besaß nicht einmal eine anständige Winterjacke, um sich vor der Dezemberkälte zu schützen, es war wirklich ein Wunder, dass er bisher noch nicht krank geworden war. Was für ein unzuverlässiger Bursche! Er hatte sich im Pensionat klammheimlich davongemacht, und nun war er mit harmloser Miene bei Professor Sereno erschienen und hatte um eine Stellung angefragt. Trotz seines leichtfertigen Wesens fand Marian es angenehm, ihn wieder in ihrer Nähe zu haben, und sie hatte weder Mrs. Waterfield noch Professor Sereno gegenüber erwähnt, woher sie ihn kannte.
»Dieses Mal laufen Sie bitte nicht sang- und klanglos davon, Mr. Mills!«, hatte sie ihm leise zugeflüstert, als sie im Flur aufeinandertrafen. »Es war sehr ungehörig von Ihnen, Mrs. Potter so im Stich zu lassen!«
Er war ihr im dämmrigen Flur irgendwie fremd erschienen, größer und dennoch nicht so schlaksig, auch seine Gesichtszüge hatten sich verändert, vor allem das Kinn wich nicht mehr so stark zurück.
»Danke, dass Sie mich nicht verraten, Miss Marian«, murmelte er verlegen. »Ich verspreche Ihnen auch, dass ich von jetzt an treu und ehrlich zu meinem Dienstherren stehen will.«
»Das hoffe ich doch sehr, Mr. Mills!«
Er nannte sie jetzt »Miss Marian« und grinste sie so begeistert an, dass sie lächeln musste. Irgendwie war er doch ein ganz rührender Kerl.
»Im Übrigen freue ich mich, dass Sie ausgerechnet hier eine neue Stelle gefunden haben, Mr. Mills.«
»Ich bin auch sehr froh darüber, Miss Marian.«
Seine Stimme klang sehr dunkel, als er diesen Satz sprach, und Marian nickte ihm leicht verwirrt zu, um dann eilig in ihrem Zimmer zu verschwinden. Dort musste sie sich erst einmal auf ihr Bett setzen, um das Herzklopfen zu bezwingen. Nein, sie war nicht krank, das hatte sie inzwischen herausgefunden. Diese Unruhe in ihrem Inneren hatte andere Gründe, und
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