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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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es war eigenartig, dass ausgerechnet ein Zusammentreffen mit dem harmlosen Burschen Jonathan Mills sie so durcheinanderbrachte.
    Ich war viel zu entgegenkommend, dachte sie beklommen. Was mag er von mir denken? Dass ich auf ihn gewartet habe? Du liebe Zeit!
    Sie grübelte darüber nach, ob Jonathan Mills vielleicht sogar ihretwegen eine Anstellung in diesem Haus gesucht hatte. Immerhin hatte er sie damals zu ihrem ersten Besuch bei Sereno begleitet – er hatte also gewusst, wo sie zu finden war … Aber nein – die Vorstellung, der arme, ungeschickte Jonathan Mills könnte irgendwelche Gefühle für sie hegen und ihr deshalb bis hierher gefolgt sein, mutete zu grotesk an …
    Professor Sereno brach die Begleitung ab und ließ seine Hände mit einem Seufzer von den Tasten auf die Knie gleiten.
    »Danke – das war sehr hübsch, Marian. Deine Improvisationen sind einfallsreicher, als diese Melodie es verdient hat.«
    Er wandte den Kopf zur Seite und betrachtete die gläserne Karaffe. Vielleicht überlegte er, ob er noch einen Schluck Wasser trinken sollte. Weshalb er dabei so unzufrieden aussah, konnte Marian sich jedoch nicht erklären. Hatte er nicht gesagt, sie hätte hübsch gesungen?
    »Nun – wir werden eine andere Melodie finden. Für heute ist der Unterricht beendet.«
    »Und was ist mit der Händel-Arie?«
    Sereno holte tief Luft, als müsste er seinen aufsteigenden Ärger bezwingen, und erklärte dann, diese Arie könnte bis morgen Nachmittag warten, es wäre nicht eilig damit.
    »Aber ich würde sie gern irgendwo vortragen … Das tun doch all Ihre Schüler jetzt in der Weihnachtszeit! Ich könnte doch in der Kirche St. Jacob …«
    Ein hässlicher Missklang, ein Klaster, unterbrach ihre Rede, Sereno hatte mit der flachen Hand auf die Klaviertasten geschlagen.
    »Sagte ich nicht vorhin, dass es dafür noch zu früh ist?«, fuhr er sie zornig an. »Ich habe keine Lust, mich ständig zu wiederholen, Marian Lethaby!«
    Sie fuhr erschrocken zusammen, denn er war laut geworden. Wie widersprüchlich dieser Mann doch war! Gerade eben hatte er sie noch mit samtweicher Stimme gelobt, sie mit seinen Blicken angefleht, so schön wie irgend möglich zu singen. Jetzt starrte er sie so hasserfüllt an, dass sie Angst vor ihm bekam.
    »Es … es tut mir leid, Sir«, stotterte sie. »Ich dachte ja nur, weil die anderen doch auch …«
    Marian verstummte, und da er sie immer noch anstarrte, legte sie das Notenblatt verlegen wieder in die Mappe zurück, die noch aufgeschlagen auf dem Flügel lag. Dort hatte er eine ganze Menge solcher Melodien gesammelt – sie hatte sogar den Eindruck, dass es täglich mehr wurden.
    »Es sind gewiss sehr schöne alte Weisen dabei«, bemerkte sie höflich.
    Sereno schien sie jetzt völlig vergessen zu haben, er spielte leise Arpeggien auf dem Klavier, sah dabei verträumt in die Luft und summte vor sich hin. Marian machte, dass sie aus dem Zimmer kam.
    Vor der Tür wartete Juliette auf ihren Einzelunterricht. Sie saß auf einem Stuhl, hielt die aufgeschlagenen Noten auf dem Schoß und memorierte leise den Text einer italienischen Arie. Als Marian an der Tür auftauchte, hob sie den Kopf und lächelte ihr zu.
    »Na, ist er schlecht gelaunt, der alte Kauz?«, fragte sie mitleidig. »Nimm es nicht tragisch – er hat seine Anwandlungen. Vor allem jetzt, weil doch bald das Hauskonzert ist und sein Renommee auf dem Spiel steht.«
    Richtig – daran hatte Marian gar nicht mehr gedacht! Wie sie inzwischen erfahren hatte, war es schon Tradition, dass kurz vor dem Weihnachtsfest ein Vortragsabend auf Serenos Anwesen stattfand, zu dem sich einflussreiche Kunstmäzene, Kritiker, Kollegen, aber auch Konkurrenten einfanden. Die jungen Sänger, denen Sereno gestattete, dort aufzutreten, stellten seine Aushängeschilder dar und wurden – so hieß es – in Fachkreisen als Geheimtipp gehandelt. Wer allerdings bei diesem Publikum durchfiel, bekam so rasch keinen Fuß mehr auf den Boden – schon allein deshalb, weil er Serenos Ruf geschädigt hatte, was sein Lehrer ihm nicht verzeihen würde.
    »Da wird der nervöse Herr Professor jetzt wohl über mich herfallen«, meinte Juliette schulterzuckend. »Und wenn schon – ich habe ein dickes Fell.«
    Sie strich Marian mit einer heiteren Geste über die Wange und ging zur Tür, um dort theatralisch noch einmal tief Luft zu holen, bevor sie eintrat.
    »Auf in die Höhle des Löwen!«, scherzte sie, und ihre dunklen Augen blitzten unternehmungslustig.
    Sie war

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