Gesang der Daemmerung
wirklich eine begabte Schauspielerin, denn sie brachte Marian zum Lachen. Ach, es war gut, dass es Juliette gab, die einzige liebenswerte unter all den ehrgeizigen, missgünstigen Schülerinnen! Und es war auch schön, dass Jonathan Mills jetzt hier angestellt war und sie ihm im Haus oder im Garten begegnen würde. Zum Kuckuck mit all den dummen Vermutungen und Vorbehalten! Er war ein anständiger und netter Bursche und damit basta!
Die meisten externen Schüler hatten jetzt ihre Übungen beendet, nur aus einigen wenigen Räumen drangen noch beharrliche Koloraturen und Klavierbegleitung. Dafür hatte Jonathan Mills viel zu tun, da er jedem, der Villa und Garten verließ, das Tor öffnen musste, um es dann wieder hinter ihm zu verschließen. Er hatte sich inzwischen mit den beiden braunen Hunden angefreundet, die zuerst große Angst vor ihm gehabt hatten. Jetzt folgten sie ihm mit einer Unterwürfigkeit, die geradezu verblüffend war, denn der ungeschickte, schüchterne Jonathan Mills wirkte – so meinte Marian zumindest – kein bisschen respekteinflößend.
Sie hatte großes Pech, denn gerade als sie an den Übungsräumen vorbei in die Halle hinüberlaufen wollte, trat Lillian aus dem Zimmer. Sie wurde von ihrem Korrepetitor begleitet, einem Musikstudenten, den ihre Eltern dafür bezahlten, dass er dreimal in der Woche mit Lillian die Arien und Lieder übte.
»Ach, da ist ja unser zartes Engelein!«, rief Lillian mit gönnerhaftem Ausdruck. »Wie schön du heute wieder gesungen hast, meine Kleine! Nur den Text konnte man leider nicht verstehen …«
Der Musikstudent – ein dürrer blonder Mensch mit vorstehenden Augen – verneigte sich rasch, wobei unklar war, ob die Höflichkeit Lillian oder Marian galt. Dann machte er sich eilig aus dem Staub. Marian wäre ebenfalls gern davongelaufen, doch diesen Triumph wollte sie der blondlockigen Lillian nicht gönnen. Noch war es nicht so weit, dass sie sich von dieser Giftspritze in die Flucht schlagen ließ!
»Ja, am Text müssen wir noch arbeiten«, bemerkte sie mit erzwungener Ruhe. »Es wird nicht einfach sein, da ich über einer vorgegebenen Melodie improvisiert habe.«
»Wie nett!«, meinte Lillian gedehnt und zog dann eine Miene, als wäre Marian sehr zu bedauern. »Es ist doch seltsam, wie lange du diese einfachen Melodien singen musst. Ich, zum Beispiel, durfte schon nach zwei Wochen Unterricht die erste Opernarie einstudieren. Aber die Begabungen sind nun einmal unterschiedlich verteilt …«
Wie boshaft sie die Dinge verdrehte! Lillian konnte noch nicht einmal die simpelste Melodie vom Blatt singen und brauchte einen Korrepetitor, um ihre Arien zu lernen. Nie im Leben wäre sie imstande gewesen, zu einer vorgegebenen Melodie frei zu improvisieren. Allerdings vermochte das auch keine andere Schülerin, zumal es nicht in der Ausbildung vorgesehen war. Marian war die Einzige, die Sereno hin und wieder dazu aufforderte.
»Ich bin ein wenig müde und gehe auf mein Zimmer. Wir sehen uns dann beim Abendessen, Lillian.«
»Ja, ruh dich aus, arme Kleine! Singen ist anstrengend. Wer solch eine schwächliche Konstitution wie du hat, sollte wohl besser nicht zur Bühne gehen. Nichts ist schlimmer, als ein Beruf, der den Menschen überfordert und ihn letztlich aufzehrt, ihm alle Kräfte raubt … Ach, sagte ich schon, dass ich am kommenden Sonntag in der Kirche St. Jacob eine Händel-Arie vortragen werde? Die hübsche Arie mit den Schäfchen … ›Er weidet seine Herde‹ …«
Marian hatte die Halle schon fast durchquert, jetzt aber blieb sie betroffen stehen.
»In St. Jacob? Die kleine Kirche in Hampstead?«, vergewisserte sie sich atemlos.
»Ja, ich glaube es war Hampstead. Mr. Sereno wird mich dorthin begleiten. Elisabeth wird auch singen, sie hat eine Arie aus der letzten Kantate der Johannespassion von Bach ausgewählt.«
Marian war klar, welche Arie gemeint war. »Nur ein Wink von deinen Händen …«, auch das war eine ihrer Lieblingsarien. Sie hatte Elisabeth oft beim Üben zugehört und wusste recht gut, dass sie sich immer wieder verzählte und auch die schwierigen Koloraturen unrein sang. Aber Sereno schien ihre Leistung wohl gut genug, um sie in St. Jacob auftreten zu lassen.
»Da wünsche ich viel Glück!«
Marian sprach es mit besonderer Betonung aus und schritt davon, bevor Lillian eine Antwort einfiel. Sie hatte diesen Satz genau so verstanden, wie Marian ihn gemeint hatte: Du wirst viel Glück brauchen, meine Liebe, um diese Arie wirklich
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