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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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und reichte ihr das zusammengefaltete Schreiben, und wie zufällig berührte er ihre Hand, als sie nach dem Brief fasste. Erschrocken zuckte sie zusammen, denn es schien ein heißer Strom durch ihren Arm zu ihrem Herzen zu fahren, ihr wurde schwindelig, der Blick trübte sich. Für einen Augenblick glaubte sie, die dunkel umschatteten Augen des Geistes in Jonathan Mills’ Gesicht zu sehen, weit geöffnet, die Pupillen wie von schwarzblauem Samt. Anders als damals in der Bibliothek wich er ihrem Blick jetzt nicht aus, er schien vielmehr in sie einzudringen und sie aussaugen zu wollen …
    »Du liebe Güte! Setzen Sie sich besser hin, Miss Marian! Sie sind ja ganz blass geworden …«
    Der seltsame Zustand verging so rasch, wie er gekommen war. Schon im nächsten Moment waren Mills’ Augen wieder klein und hellbraun wie unreife Haselnüsse, und außer dass sie ein wenig tief in den Höhlen lagen, war nichts Ungewöhnliches an ihnen. Marian bemerkte erschrocken, dass sie sich mit beiden Händen an der Stuhllehne festklammerte. Oh Gott – wie peinlich! Es war nur gut, dass der arme Mills nicht wissen konnte, welch groteske Fantasien sie gerade eben überkommen hatten.
    »Es ist alles in Ordnung, Mr. Mills«, erklärte sie mühsam. »Sie können jetzt wirklich gehen.«
    Er machte eine linkische Verbeugung, bevor er ihr Zimmer verließ, und schloss die Tür so leise hinter sich, dass sie es kaum hören konnte.
    Ich muss ihn vergessen, flüsterte Marian unglücklich und schlug sich gegen die Stirn. Fort mit dir! Misch dich nie wieder in mein Leben ein!
    Sie vermied es, den Namen »Darion« auszusprechen. Namen besaßen eine magische Kraft, die sie auf keinen Fall beschwören wollte.

Kapitel 14
    »Und wo?«
    »Das weiß ich nicht genau«, knurrte Jonathan Mills. »Ihr Vormund hat eine Kutsche gemietet und war mit ihr ein paarmal in London unterwegs. Zuletzt vor zwei Wochen – seither ist er krank, und sie hat die Villa nicht mehr verlassen.«
    »Besucher?«
    »Keine. Möglicherweise wird sie aber demnächst von ihrer Freundin Kate aufgesucht, die einen jungen Mann mitbringen will. Ihren Vetter George …«
    »Woher weißt du das?«
    »Sie hat es einer Mitschülerin erzählt.«
    »Aha.«
    Gorians Bote war einer der jungen Kerle, die mit ihm gemeinsam ausgebildet worden waren. Er kannte ihn jedoch nur vom Sehen, zu seinen Freunden hatte dieser Streber schon damals nicht gezählt. Jetzt umwaberte der übereifrige Geselle die Gartenmauer als grauer Nebeldunst, nötigte Jonathan, zum Schein mit der Harke zwischen den Bäumen zu hantieren, und quetschte ihn dabei aus wie eine Zitrone.
    »George? Und der Nachname?«
    »Harrison, glaube ich. Ein harmloser Bursche, den Kate unbedingt mit Marian verheiraten will.«
    »Verheiraten?«
    Jonathan kratzte einige festgefrorene Blätter von der Wiese und scheuchte dabei ein Eichhörnchen auf, das ein paar Nüsse aus seinem Versteck ausgraben wollte. Es war elend kalt, wenn man als Jonathan Mills herumlief – aber das konnte der unerfahrene junge Schnösel sich nicht vorstellen. Ein Nachtschatten fror nur selten, Kälte war für seinesgleichen ebenso wie die Dunkelheit ein Zustand angenehmen Wohlbehagens.
    »Ja, verheiraten.«
    »Wird sie darauf eingehen?«
    »Sieht nicht so aus.«
    »Und sonst?«
    Jonathan verlor langsam die Geduld. Wollte dieser penetrante Bursche ihn überhaupt nicht mehr in Ruhe lassen?!
    »Nichts von Bedeutung. Sie singt und ist fleißig.«
    »Was singt sie?«
    Er hatte diese Frage schon mindestens drei Mal beantwortet und war auch jetzt nicht gewillt, Dinge zu offenbaren, die Gorian besser nicht erfahren sollte.
    »Gesangsübungen. Du weißt schon. Lalalaa. Numinee. Dubiduu. So – ho – nnenschein. Re – he – genflut. Ni – hi – mmermehr …«
    »Leise, sonst hört man dich!«
    »Ich muss jetzt sowieso rein«, murrte er. »Mrs. Waterfield wird sich schwer wundern, dass ich um diese Zeit noch Laub zusammenreche.«
    »Was ist mit der Aufgabe? Hast du sie gelöst?«
    »Noch nicht.«
    »Immer noch nicht? Das ist sehr bedauerlich.«
    Wie er sich aufspielte, dieser junge Schnösel! Dabei hatte er garantiert keine Ahnung, worum es bei dieser Aufgabe ging. Einem solchen Handlanger verriet Gorian niemals die Hintergründe seiner Befehle, schon gar nicht in einem Fall von solcher Wichtigkeit. Vermutlich hatte er nur die Anweisung erhalten nachzufragen, etwas zu drängeln, damit Jonathan nicht glaubte, er hätte alle Zeit der Welt. Da er keine Antwort erhielt,

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