Gesang der Daemmerung
mit sehnsüchtigem Begehren anstarrte und sich nach jedem Zusammentreffen wieder energisch zur Ordnung rufen musste. Welche Verführungskraft besaß dieses zarte Elbenwesen doch, welche Leidenschaft konnte sie entfachen! Manchmal glaubte er, seiner Sehnsucht nicht länger widerstehen zu können, und war drauf und dran, sie aus ihrem Zimmer zu entführen. Als Darion würde er sie auf seinen Armen durch die Nacht davontragen, hinunter in den Süden, wo das lichtblaue Meer an weiße Strände rollte und schlanke Palmen ihnen ihre fächerförmigen Blätter wie große dunkelgrüne Hände entgegenstreckten. An solchen Orten besaß Gorian nur wenig Macht, zumindest tagsüber, aber auch in den Nächten waren Mond und Sterne so hell, dass die Krieger der Nachtschatten Schwierigkeiten hatten, sich zurechtzufinden. Und doch wäre eine solche Flucht voreilig und höchst gefährlich für sie beide gewesen, zumal auch ihm selbst der Aufenthalt an einem weißen Strand im hellen Sonnenschein, noch dazu bei lichtblauen, glitzernden Wellen eine Menge Probleme bereitet hätte. Gab es überhaupt einen Ort, an dem sie beide miteinander leben konnten? War es nicht so, dass immer einer von ihnen leiden musste? Er, der Nachtschatten, spürte schmerzlich das gleißende Licht – sie, die Lichtelbin, fürchtete sich vor der Dunkelheit.
Ein Windstoß rüttelte an den Fenstern und sang gleich darauf eine jammervolle Arie im Kaminschacht. Er krümmte sich noch enger zusammen und dachte missgünstig daran, dass Sereno jetzt oben in seinem Archiv ganz sicher ein warmes Kaminfeuer angezündet hatte, während er mit der Lupe bewaffnet über alten Noten saß. Gorian hatte über den eifrigen Professor des Belcanto gelacht, dennoch war er sehr interessiert an Serenos Forschungen und ließ immer wieder fragen, was er Marian vorlegte und wie diese Melodien klangen. Es war ziemlich klar, dass hier der Schlüssel des Geheimnisses liegen musste. Sereno war auf der Suche nach einer Melodie, einer bestimmten Weise, die ganz offensichtlich einen großen Wert besaß. Nur Marian, die Lichtelbin aus dem Hause der Königin, konnte sie erkennen – das war wohl der Grund, weshalb Sereno ihr diese alten Noten antrug. Worin dieser Wert bestand, das hatte Jonathan noch nicht herausgefunden, und er war sich ziemlich sicher, dass auch Marian keine Ahnung von all diesen Dingen hatte. Zumindest war es ihr nicht bewusst.
Gorians Auftrag war ihm seltsam diffus erschienen. Er sollte Marian beobachten, ihm jede Einzelheit ihres Tagesablaufs sorgfältig vermelden, sie vor allem behüten, was ihrem Studium abträglich sein könnte. Inzwischen hatte Jonathan längst begriffen, worauf es dem Herrn der Nachtschatten wirklich ankam: Genau wie Sereno war er auf der Suche nach der magischen Melodie. Doch er ließ Sereno für sich arbeiten, wartete in aller Ruhe ab, bis dieser fündig geworden war, um ihm dann den Lohn seiner Mühen zu entreißen. Diese verlorene Melodie musste auch für Gorian eine große Kostbarkeit darstellen – ohne Zweifel barg sie das Geheimnis, das die Elbenkönigin einst gehütet hatte.
Woher aber stammten Serenos Kenntnisse? Er war kein Geistwesen, sondern nur ein Mensch, dem solches Wissen eigentlich verborgen war. Nach einigem Grübeln hatte Jonathan vermutet, dass die Lösung in Serenos wohlgehütetem Archiv zu finden war. Der Professor musste dort irgendeine alte Schrift aufbewahren – ein Buch, eine Papierrolle, was auch immer –, die ihn auf die Spur des Geheimnisses gebracht hatte. Vielleicht hatte einer der Lichtelben sein Wissen niedergeschrieben, damit es nicht ganz und gar verlorenging, nachdem das Reich zerfallen und die Elbenkönigin gestorben war? Wenn es sich so verhielt, dann war Sereno mit großer Beharrlichkeit ausgestattet, denn eine solche Schrift wehrte sich gegen jeden Unbefugten und erschloss sich nur einem Elben. Wie auch immer – Sereno war auf die Spur des Geheimnisses gelangt und hatte weder gerastet noch geruht, bis er Marian an sich gebunden hatte.
Woher aber wusste er, dass sie eine Lichtelbin aus dem Hause der Königin war? Der Gedanke, Sereno könnte das Zeichen an ihrem Rücken ebenfalls gesehen haben, gefiel Jonathan überhaupt nicht. Hatte dieser windige Musikprofessor Marian etwa bei irgendeiner Gelegenheit unbekleidet betrachtet? Ebenfalls machte ihm die Tatsache zu schaffen, dass Sereno das Mädchen wie eine Gefangene hielt und sogar die Fenster ihres Zimmers hatte zunageln lassen. Es war ihm aufgefallen, als er
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