Gesang der Daemmerung
Marians Fenster putzte und dabei ganz diskret die Möglichkeit untersuchen wollte, ungesehen in ihr Zimmer zu gelangen. Ahnte Sereno vielleicht sogar, dass der Herr der Nachtschatten ihn ausspähen ließ? Oder hatte er einfach nur Angst, Marian könnte ihm über Nacht davonlaufen?
Fragen über Fragen! Jonathan Mills schnaubte leise und verdrießlich vor sich hin. Vorläufig blieb ihm nichts anderes übrig, als Augen und Ohren offen zu halten und abzuwarten. Er musste dieses Elbengeheimnis noch vor den beiden anderen entschlüsseln und Marian mithilfe dieses Zaubers in Sicherheit bringen. Denn eines war klar: Wenn Gorian so eifrig hinter dieser Melodie her war, bedeutete ihre Kenntnis unendliche Macht.
Es war nicht gerade einfach, diesen Plan zu verfolgen, denn er saß zwischen drei Feuern: Sereno gegenüber musste er die harmlose Miene wahren. Das war noch am einfachsten, denn der Professor kümmerte sich recht wenig um seinen Angestellten Jonathan Mills. Viel schwieriger war es, den Herrn der Nachtschatten zufriedenzustellen, während er ihm doch wichtige Beobachtungen verschwieg und weiter verschweigen würde. Die schwerste Prüfung jedoch bestand darin, in Marians Nähe zu leben, sie täglich zu sehen und ihr die Wahrheit doch nicht eingestehen zu können. Es war vollkommen unmöglich, ihr zu diesem Zeitpunkt Dinge zu erklären, die außerhalb ihrer Vorstellungswelt lagen. Sie würde ihm vermutlich kein einziges Wort glauben, schlimmer noch: Durch unbedachte Äußerungen konnte sie ihn verraten.
Ihrer Verführungskraft ausgesetzt zu sein und sich dabei nichts anmerken zu lassen, kostete eine Menge Selbstdisziplin. Verdammt – er hatte sich gerade eben hinreißen lassen, zwei ihrer Finger zu berühren! Prompt war der Blitz durch ihn hindurchgefahren, sodass er geglaubt hatte, auf der Stelle zu verglühen. Was für ein Leichtsinn! Es hätte seine mühsam hergestellte Verwandlung auf einen Schlag zerstören können und er wäre als Darion vor ihr gestanden! Was dann geschehen wäre, durfte er sich jetzt auf keinen Fall ausmalen, sonst ging der letzte Rest seines Verstandes auch noch dahin. Erst wenn sie beide außerhalb aller Gefahren waren, würde er Marian in seiner wahren Gestalt gegenübertreten und sich dem Rausch hingeben, den ihr zarter Elbenkörper immer wieder in ihm auslöste.
Was dann geschehen würde, stand vollkommen in den Sternen, denn seines Wissens hatte noch nie zuvor ein Nachtschatten eine Lichtelbin geliebt. Sie waren wie Feuer und Wasser, wie Tag und Nacht, Sonne und Mond – es gab keine zwei Wesen im ganzen Universum, die sich fremder waren als sie beide.
Und doch hatte er sie in seinen Armen gehalten, und sie war keineswegs unter seinen Küssen gestorben. Ganz im Gegenteil, es hatte ihr gefallen.
Er fror jetzt erbärmlich und beschloss, in seine Kammer hinaufzusteigen. Sie befand sich – wie alle Gesindekammern – direkt unter dem Dach und hielt neben der eisigen Kälte auch eine muntere Schar kleiner Mäuse für ihn bereit. Aber wenigstens konnte er sich dort in seine Wolldecke wickeln. Er pfiff die beiden braunen Hunde herbei, die nur widerwillig aus der warmen Küche in die Halle gelaufen kamen, ihm dann aber gehorsam bis unters Dach folgten. Dort legten sie sich rechts und links neben ihn auf das Bett, wärmten ihn mit ihren wolligen Körpern, während er die Decke über sie alle drei breitete.
Drüben, wo die beiden Hausmädchen und Mrs. Waterfield ihre Kammern hatten, ragte der Schornstein zum Dach hinauf, und da Sereno immer noch seinen Kamin befeuerte, würde der Schlot in den Kammern etwas Wärme verbreiten. Hier jedoch, wo man ihn untergebracht hatte, gab es keinen Schlot. Es handelte sich um ein Quartier für einen »gesunden kräftigen, jungen Mann«. Das hatte Mrs. Waterfield ihm mit anzüglichem Lächeln erzählt, als sie ihm seine Unterkunft zeigte. Sein Vorgänger, der jetzt unten in der Küche nächtigte, hatte fast vierzig Jahre lang Winter wie Sommer hier gewohnt, dafür plagten ihn jetzt das Rheuma und ein heftiges Rückenleiden. Es war nicht immer lustig, ein Mensch zu sein, das hatte Jonathan Mills auf dieser Reise gelernt.
Es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als in Serenos Archiv auf die Suche zu gehen. Gelegenheiten dazu gab es momentan genügend, da ständig irgendwelche Schüler in Kirchen oder anderen Konzerten auftraten und Sereno sie meist begleitete, um ihre Fortschritte zu überprüfen. Oder um mit seinen Schülern anzugeben, was auch
Weitere Kostenlose Bücher