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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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Tee ausrichten konnte! Auch ihre Stimmung besserte sich. Eigentlich war es sehr angenehm, dass man hier in Serenos Villa nicht gar so früh aus den Federn steigen musste. Vor allem der Professor selbst war kein Morgenmensch. Er hatte ihnen mehrfach erläutert, dass die frühen Tagesstunden dem Sänger eher abträglich wären, die Stimme wäre noch nicht wach, die Stimmbänder schlecht durchblutet, und dazu käme noch der lästige Morgenschleim. Diesen dürfte man auf keinen Fall abhusten oder gar durch eifriges Räuspern vertreiben wollen, das schadete der Stimme und führte zu chronischer Heiserkeit. Man müsste warme Getränke zu sich nehmen, nichts Bröseliges essen, auch beileibe nichts Scharfes, und geduldig warten, bis die Stimme von selbst klar wurde.
    Marian trank die Neige aus ihrer Tasse und stellte das gute Stück vorsichtig auf dem Nachttisch ab. Sie war immer noch ärgerlich auf Sereno und fand, dass der Professor doch in manchen Dingen sehr seltsam war. Weshalb in aller Welt ließ er sie nicht auftreten? Und wieso musste sie ständig diese alten Melodien singen? Sie waren eintönig und langweilig – aber Sereno beharrte darauf, dass sie jede Einzelne von den Noten absang und dazu improvisierte. Zu Anfang hatte er sie immer wieder gefragt, was sie vor Augen hätte, wenn sie diese Melodien erfand. Ob sie vielleicht eine Landschaft sähe? Hügel, Wälder, vielleicht einen See? Oder zerklüftete Berge, Felsen, brausende Wasserfälle? Einen Fluss, der durch ein liebliches Tal seinen Weg nähme …
    Aber sie hatte nichts dergleichen gesehen. Nur Farben, die manchmal einzelnen Tönen, dann wieder ganzen Tonfolgen zugeordnet waren, aber diese Nachricht schien den Professor zu enttäuschen, und er hatte seine Fragerei später eingestellt.
    Es wäre wirklich nett, dachte Marian, wenn er auch bald aufhören würde, mir seine dummen Lieder aufzudrängen! Soll er sie doch selbst singen!
    Jetzt waren Schritte im Flur zu hören: Lillian stieg mit Elisabeth die Treppe hinab, um unten das Frühstück einzunehmen. Natürlich tuschelten die beiden wieder miteinander, und da Marian über ein feines Gehör verfügte, verstand sie einige Sätze.
    »Durch den ganzen Garten – bis zu ihrem Fenster! Man sieht jeden einzelnen Fußtritt.«
    »Tja – stille Wasser sind tief, meine Liebe.«
    »Dass sie es so schamlos treibt, hätte ich wirklich nicht gedacht …«
    Marian hatte eigentlich gar nicht zuhören wollen, aber entgegen ihrem Willen packte sie jetzt die Neugier. Durch den Garten? Jeden einzelnen Fußtritt? Sie sprang von ihrem Lager und zog die Vorhänge vom Fenster zurück. Auch in dieser Nacht waren Eisblumen an den Scheiben gewachsen, wunderschöne zarte Gebilde aus unzähligen winzigen Kristallen zusammengesetzt, ein kostbares Brokatmuster, das der Winter geschaffen hatte. Es war schade, aber sie musste ein Guckloch hineinhauchen, sonst hätte sie nicht in den Garten schauen können.
    Es hatte geschneit! Flaumiger Schnee bedeckte die Mauer wie ein Kissen, lag hell auf den kahlen Ästen, und drüben auf dem alten Schuppen war der grüne Efeu von weißen Flöckchen bestreut. Du liebe Güte – es war das erste Mal, dass sie in London Schnee zu sehen bekam! Daheim in Maygarden hatte es jeden Winter geschneit, und sie war als Kind auf dem Hügel unter den alten Eichen Schlitten gefahren.
    Sie hauchte noch einmal, da das Guckloch schon wieder zufrieren wollte, und plötzlich entdeckte sie die Spuren. Es waren Abdrücke von groben Männerstiefeln, breit und flach, am Absatz hin und wieder verwischt, als hätte die Person den Fuß zuerst vorsichtig vorgeschoben und dann erst aufgesetzt. Die Spur begann – soweit sie es von hier aus sehen konnte – irgendwo hinten bei der Ummauerung und führte zwischen den Bäumen hindurch direkt unter ihr Fenster, das sich im ersten Stock befand. Was der Unbekannte dort an Abdrücken hinterlassen hatte, konnte sie nicht sehen, sie hätte das Fenster dazu öffnen und sich hinausbeugen müssen. Doch es war recht gut zu erkennen, dass er offensichtlich unverrichteter Dinge wieder davongegangen war. Seine Spur führte quer durch den Garten am Schuppen vorbei und verlor sich zwischen den kahlen Büschen.
    Das seltsame Geräusch am frühen Morgen! Hatte jemand versucht, in ihr Zimmer einzudringen?
    Dann hätte er wohl eine Leiter mitbringen müssen, dachte Marian belustigt. Nein, es wird Jonathan Mills gewesen sein, der heute schon in aller Frühe im Garten herumgelaufen ist, um Brennholz zu

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