Gesang der Daemmerung
aber bitte in Zukunft nicht mehr vor meinem Fenster! Heute Früh haben meine Mitschülerinnen Ihre Spuren gesehen und allerlei dummes Zeug über uns beide erzählt.«
Sofort verkörperte er das personifizierte Schuldbewusstsein. Um Himmels willen! Das hätte er nicht gewollt. Wie er nur so unbedacht hätte handeln können! Aber er wäre bereit, zu seinem Fehler zu stehen, auf keinen Fall könnte er dulden, dass Miss Marians guter Ruf durch seine Schuld zu Schaden käme.
»Ich werde Ihren Mitschülerinnen erzählen, wie die Spuren zustande kamen …«
»Das lassen Sie schön bleiben!«, wiegelte sie ab. »Je weniger über diese dumme Geschichte gesprochen wird, desto schneller ist sie vergessen. Ich sagte es ja auch nur, damit Sie sich in Zukunft besser in Acht nehmen …«
»Es tut mir unglaublich leid, Miss Marian! Ich bin solch ein ungeschickter Tölpel …«
Wie bezaubernd er doch sein konnte, wenn er sie halb schuldbewusst, halb belustigt anblinzelte! Man konnte diesem Burschen einfach nicht böse sein, zumal er wohl tatsächlich in sie verliebt war.
»Aber nein, Mr. Mills, das sind Sie nicht! Ich kann Sie ja gut verstehen. Ich habe früher in Maygarden auch gern mit Schneebällen geworfen …«
Sie lächelte ihm aufmunternd zu und lief dann schnell an ihm vorbei, um wenigstens noch ein Butterbrot und eine Tasse Tee in der Küche zu ergattern. Als sie wenig später bei Mrs. Waterfield am Küchentisch saß und mit vollen Backen kaute, fiel ihr ein, dass es doch zu der Zeit, als sie die Geräusche an ihrem Fenster hörte, noch vollkommen dunkel gewesen war. Hatte Mills etwa im Dusteren mit Schneebällen geworfen? Irgendetwas stimmte da nicht …
Am Nachmittag war Marian wieder zum Einzelunterricht bei Sereno bestellt und betrat den Übungsraum mit einer ungeheuren Wut im Bauch. Der Professor war am Morgen vor versammelter Schülerschaft zum ersten Mal recht unfreundlich mit ihr umgegangen, was vor allem ihre Mitschülerinnen mit großer Befriedigung zur Kenntnis genommen hatten. Endlich bekam auch die kleine Marian einmal zu hören, dass sie noch keine fertige Primadonna war, wie sie wohl bisher geglaubt hatte! Das liebe Engelchen war ja bisher erstaunlich gut weggekommen, heute aber hagelte es Kritik.
»Wie stehst du denn da? Wie eine Putzfrau, die ihren Schrubber verloren hat! Der Sänger muss die Füße im Boden verankern, dort befindet sich die Basis, der Grund, auf der die Stimme ruht …«
Nichts hatte sie ihm recht machen können. Kaum sang sie einen Ton, da fing er schon an zu nörgeln. Wo die Stütze wäre? Sie hätte ein Zwerchfell und sollte es gefälligst einsetzen! Der Klang hätte keine Substanz, pendle hin und her … Und das Kinn wäre nicht locker …
Marian hatte all ihre Energie aufwenden müssen, um die halbe Stunde durchzustehen, in der er sie vor ihren Mitschülern vorführte. Mehrfach war sie versucht gewesen, ihm die Noten vor die Füße zu werfen und wutentbrannt aus dem Übungsraum zu laufen. Doch sie hielt durch – ein solch lächerliches Schauspiel wollte sie den hämisch grinsenden oder mitleidig dreinblickenden Zuschauern nicht bieten.
Jetzt aber, da sie im Einzelunterricht mit ihm allein war, würde sie andere Saiten aufziehen. Wenn er glaubte, sie würde ihm aus der Hand fressen, wie es all die anderen Schüler taten, dann irrte er sich!
Während sie zum Flügel hinüberging und sich in Position stellte, lastete sein Blick schwer auf ihr. War das Zorn oder Angst in seinen übergroßen braunen Augen? Oder war es tiefe Enttäuschung, die schmerzliche Erkenntnis, dass eine große Hoffnung sich nicht erfüllen wollte? Wie auch immer – dieser Blick ging ihr auf die Nerven.
»Marian Lethaby!«, empfing er sie, bevor sie auch nur ein einziges Wort sagen konnte. »Ich bin fest entschlossen, eine große Sängerin aus dir zu machen, denn du hast das Zeug dazu!«
Sie öffnete den Mund, um einzuwenden, dass er ihr heute ganz im Gegenteil das Gefühl gegeben hätte, eine völlige Versagerin zu sein. Doch er schlug zwei Akkorde auf dem Flügel an und redete dann einfach weiter.
»Ja, so ist es, Marian. Ich habe schon viele große Talente ausgebildet. Aus meiner Schule sind Künstler hervorgegangen, die auf allen Bühnen Europas stehen und ihr Publikum begeistern. Aber noch nie in meiner ganzen Laufbahn habe ich eine Stimme erlebt, die der deinen gleicht.«
Sie war verblüfft und natürlich auch geschmeichelt. Ja, sie hatte immer das Gefühl gehabt, den anderen überlegen zu
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