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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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holen. Ungeschickt, wie er ist, musste er ausgerechnet unter meinem Fenster stehen bleiben und mich in Verruf bringen. Nun haben diese Schwatzdrosseln wieder einen Anlass, um über mich herzuziehen. Als ob es ihnen daran gefehlt hätte!
    Während sie sich ankleidete, fiel ihr wieder ein, dass Elisabeth und Lillian in St. Jacob auftreten würden, während sie selbst ganz offensichtlich noch zu schlecht sang, um sich öffentlich hören zu lassen. Ärgerlich hob sie das Buch vom Fußboden auf, an dem sie sich den bloßen Fuß gestoßen hatte, betrachtete den leicht geknickten Einband und legte es auf den Tisch. Dort fiel ihr Strykers Brief ins Auge, den sie voller Widerwillen von sich geworfen hatte, ohne ihn zu öffnen. Gewiss, der arme Mr. Strykers war halb gelähmt und hilflos, dennoch konnte sie kein Mitleid für ihn empfinden. Im Gegenteil – alles, was diesen Menschen betraf, war ihr entsetzlich widerwärtig. Sie konnte es kaum ertragen, dass jemand seinen Namen aussprach, und die Briefe, mit denen er sie ständig belästigte, mochte sie nicht einmal anfassen. Wie jämmerlich! Jetzt, nachdem seine boshaften Pläne fehlgeschlagen waren, bettelte und drohte er in jedem Brief, sie dürfte auf keinen Fall darüber reden, was sich im Hause seiner Tante zugetragen hätte. Es wäre alles nur ein Missverständnis gewesen, in ihrer Unerfahrenheit hätte sie die Lage gewiss völlig falsch eingeschätzt, denn er, ihr Vormund, hätte stets nur ihr Bestes im Sinn gehabt. Dabei war es Marian sowieso nicht möglich, über seinen hinterhältigen Überfall zu sprechen. Zum einen war es viel zu peinlich, und zum anderen gab es niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können.
    Sie überlegte, ob sie diesen Brief nicht besser ungeöffnet in den Kamin werfen sollte, tat es aber doch nicht. Ihr Zimmer besaß keinen Kamin, es wurde durch den Schlot beheizt, der von der Küche nach oben stieg. Sie hätte das Schreiben in den großen Unterrichtsraum mitnehmen müssen, wo ein kräftiges Kaminfeuer loderte, und natürlich hätten Elisabeth und Lillian sie mit harmloser Miene gefragt, ob sie vielleicht gar die Briefe ihres Liebhabers den Flammen übergäbe.
    Als sie die Treppe hinablief und den Weg zur Küche einschlug, um sich noch rasch mit einem Frühstück zu versorgen, kam ihr Jonathan Mills entgegen. Er sah ziemlich verfroren aus, der arme Kerl, das Gesicht war gerötet, und in seinem Haar, das büschelweise vom Kopf abstand, entdeckte sie tauende Schneereste. Er musste schon wieder draußen herumgelaufen sein.
    »Guten Morgen, Mr. Mills. So früh schon im Garten gewesen?«
    Er blieb vor ihr stehen und fuhr sich verlegen durchs Haar. Als er den feuchten Schnee bemerkte, wurde er noch verlegener und wischte sich die nasse Hand an der Jacke ab.
    »Einen schönen guten Morgen, Miss Marian. Ja, ich … ich habe Schnee gefegt und natürlich Brennholz herbeigetragen. Wenn Sie noch frühstücken wollen, müssen Sie sich beeilen. Ich glaube, Mr. Sereno ist schon in den großen Erkerraum gegangen …«
    Tatsächlich waren schon ein paar Akkorde auf dem Flügel zu vernehmen, es war ganz sicher Sereno, der dort spielte, das konnte Marian hören.
    »Soll ich Ihnen einen Imbiss zusammenstellen und hinüberbringen?«, bot er sich dienstfertig an. »Es macht mir keine Mühe …«
    »Danke, aber ich komme schon so zurecht. Sagen sie mal, Mr. Mills, könnte es sein, dass Sie heute Früh unter meinem Fenster gestanden haben?«
    Er starrte sie erschrocken an, und sie las in seinem Gesicht, dass sie ihn ertappt hatte. Nein, nein, beruhigte sie ihn. Sie wäre nicht böse. Sie hätte sich nur gewundert, als sie die Spuren sah.
    »Haben Sie vielleicht gar Schneebälle gegen meine Fensterscheibe geworfen?«
    »Schneebälle?«
    »Oder kleine Steinchen? Ich hörte so seltsame Geräusche.«
    Merkwürdig war, dass er jetzt die Augen zusammenkniff und weniger ertappt als vielmehr besorgt wirkte. Überhaupt hatte er sich wieder ein wenig verändert: Die Nase war zwar immer noch kräftig, aber nicht mehr ganz so übermächtig wie zuvor. Und dann schien die Farbe seiner Augen dunkler, was natürlich an dem dämmrigen Flur liegen konnte.
    »Es ist wohl besser, wenn ich es zugebe«, meinte er und grinste wie ein Schuljunge. »Ja, ich habe ein paar Schneebälle geformt und sie gegen die Mauer geworfen. Es war einfach zu verführerisch – wann haben wir hier in London schon richtigen Schnee?«
    »Du liebe Güte!«, rief Marian kopfschüttelnd aus. »Machen Sie das

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