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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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hat mir gestern Miss Lillian gegeben, weil ich ihren Schirm zur Reparatur getragen habe. Möchten Sie auch den Inhalt meiner Hosentaschen sehen?«
    Es war aufregend, die beiden im gelblichen Lichtschein zu beobachten. Mrs. Waterfield war noch ein wenig außer Atem, da sie beim Stolpern in die Knie gegangen war. Jonathans Miene kam Marian eher verschmitzt vor, es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, dieses Zeug vor Mrs. Waterfields gestrengen Augen auf Serenos Schreibtisch zu legen.
    »Stecken Sie die Sachen wieder ein!, forderte sie schließlich, als er noch etliche abgerissene Knöpfe, zwei angebissene Brotkanten und zuletzt den Torschlüssel aus den Hosentaschen räumte.
    »Aber gern doch, Mrs. Waterfield! Wie Sie sehen, war alles nur ein Irrtum. Ich sagte ja, dass ich ein ungewöhnliches Geräusch hörte und deshalb …«
    »Machen Sie, dass Sie in die Küche hinunterkommen! Ich habe noch Arbeit für Sie!«
    Der Lichtschein bewegte sich zur Tür, Mrs. Waterfield ging voraus, die Lampe haltend, Jonathan folgte ihr. Als er die Tür hinter sich schloss, drehte er sich um, und Marian sah für einen Augenblick in sein Gesicht. Tatsächlich, er grinste sie an! Gleich darauf stand sie im Dunklen.
    Was auch immer er hier im Archiv getan hatte – er musste sie gesehen haben, als sie mit der Kerze in der Hand hineinging. Aber er hatte sie mit keinem Sterbenswörtchen an Mrs. Waterfield verraten – das war sehr anständig von ihm. Großer Gott – das hätte eine schöne Geschichte werden können, wenn die zornige Mrs. Waterfield sie alle beide hier entdeckt hätte! Damit wäre Marians guter Ruf wohl endgültig ruiniert gewesen.
    Sie löste sich vorsichtig aus ihrer Nische und schüttelte sich, denn sie verspürte ein unangenehmes Kitzeln an den Wangen und im Nacken, so als hafteten Spinnweben an ihr. Einen Moment lang zögerte sie, horchte auf die sich entfernenden Schritte im Treppenhaus, dann tastete sie über die Kommode und fand, was sie dort neben der Petroleumlampe vermutet hatte: eine Schachtel Zündhölzer. Eilig fingerte sie ein Hölzchen aus der Schachtel und strich es an. Zischend und nach Schwefel duftend schoss die Flamme empor, schuf einen kleinen Lichtflecken in der Dunkelheit, und Marian beeilte sich, außer der Kerze auch die Petroleumlampe anzuzünden, deren Glaszylinder sie schon abgehoben hatte. Sie musste das Herzklopfen niederzwingen und sich immer wieder sagen, dass sie sowieso ein wenig warten musste, bevor sie wieder hinunterlief, da Mrs. Waterfield noch mit lautem Getöse auf der Treppe zugange war. Sie konnte also genauso gut ihr Vorhaben zu Ende bringen und danach in aller Stille wieder hinuntersteigen. Schließlich war es kein Verbrechen, einen Begriff in einem Lexikon nachzuschlagen.
    Mit der Petroleumlampe in der Hand bewegte sie sich langsam durch den Raum, ging von Schrank zu Schrank, von Regal zu Regal und ließ den Lichtschein darübergleiten. Du lieber Himmel – was für ein abenteuerliches Chaos! Während die Bibliothek im Pensionat nach einem bestimmten System geordnet gewesen war, lag und stand hier alles in vollkommenem Durcheinander. Staubige Folianten und neue Bücher, Stapel von alten Papieren mit ausgefransten Rändern, Schriftrollen jeglicher Größe und dazwischen allerlei ungewöhnliches Zeug, das in einer Bibliothek eigentlich nichts zu suchen hatte. Ausgestopfte Eulen mit Pinselohren und riesigen Glasaugen starrten sie an, seltsam geformte Wurzeln, Bachkiesel und Bergkristalle, schmale Glasgefäße, in denen fremde Wesen in einer durchsichtigen Flüssigkeit schliefen, ein kleiner Stab aus Elfenbein, ganz und gar mit Schnitzereien bedeckt. Man hätte meinen können, ein Hexenmeister hätte all diese Dinge zusammengetragen.
    Ein vernünftiges Lexikon war nirgendwo zu entdecken. Dafür fiel ihr ein in helles Leder gebundener Foliant auf, der ein Stück aus der Reihe der Bücher hervorsah, als hätte jemand versucht, ihn herauszuziehen. Doch nicht etwa Jonathan Mills? Er hatte zwar behauptet, wegen eines ungewöhnlichen Geräuschs hierhergekommen zu sein, doch genau wie Mrs. Waterfield traute auch Marian ihm nicht so recht über den Weg. Ob ihn nicht doch die schönen Bergkristalle verlockt hatten? Sie konnte nur hoffen, dass es nicht so war.
    Der Lampenschein blieb zitternd an dem Folianten haften, und Marian stellte überrascht fest, dass das Buch das Licht reflektierte. Wie merkwürdig – das hellbraune Leder schien zu leuchten, die Goldschrift auf dem Buchrücken glitzerte

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