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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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die Idee gar nicht so übel. Aber eigentlich hatte sie das Wörterbuch Jonathan gegenüber nur als Vorwand benutzt. In Wirklichkeit suchte sie nach etwas anderem.
    Sie hatte sich den merkwürdigen Brief noch mehrmals durchgelesen und war zu der Überzeugung gekommen, dass weder Elisabeth noch Lillian ihn geschrieben haben konnten. Zum Ersten wegen des groben Papiers, das beide nicht einmal mit Handschuhen angefasst hätten. Und auch wegen der Schrift, die zierlich geschwungen, aber zugleich auch flüssig war – sie sah nicht aus, als hätte jemand seine Handschrift verstellt. Außerdem war dieser Jemand geschickt genug gewesen, um Strykers’ Umschlag über Wasserdampf zu öffnen, sein eigenes Schreiben hineinzuschmuggeln und den Umschlag wieder zuzukleben, ohne Spuren zu hinterlassen. Es gehörte eine ziemliche Handfertigkeit dazu, die Marian weder Elisabeth noch Lillian und schon gar nicht dem armen Jonathan Mills zutraute.
    Dennoch schien der Schreiber – milde gesagt – nicht ganz heil im Oberstübchen zu sein, denn der Inhalt war vollkommen konfus. Und schwülstig dazu. Großer Gott: »das Zeichen der Sonne«, »der silberne Fluss«, »das Spiel der Töne« und vor allem »das Reich der Lichtelben«. Was – um alles in der Welt – war denn eine Lichtelbin?
    Möglicherweise eine Märchengestalt. Oder ein Wesen aus der schottischen oder irischen Sagenwelt. Es klang hübsch – Lichtelbe. Ein Elbe, das war so etwas wie eine Elfe. Eine Fee. Ob dieser haltlose Schwätzer, der »Geist der Nacht«, den sie in der Bibliothek des Pensionats getroffen hatte, am Ende ein Elbe war? Ein Lichtelbe?
    Wohl eher nicht, entschied Marian nach einigem Nachdenken. Er hatte schließlich Angst vor dem Licht der Laterne, der Feigling! Da war er wohl eher ein »Dunkelelbe« – falls es so etwas gab.
    Sie hatte eine Weile darüber nachgegrübelt, ob vielleicht er diesen Brief geschrieben hatte, doch es war ganz und gar unmöglich, seinen Namen aus dieser Unterschrift herauszulesen. Immerhin hatte der Briefeschreiber die Absicht bekundet, »die neue Königin zu schützen«, und er, dessen Namen sie nicht mehr denken wollte, hatte doch ebenfalls davon gesprochen, sie zu schützen, oder? Wirklich merkwürdig, wie viele Leute sie in letzter Zeit beschützen wollten!
    Marian musste kichern – »die neue Königin«, damit war wohl sie gemeint. Nein – wer diesen Brief geschrieben hatte, war aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer Irrenanstalt entlaufen.
    Das Reich der Lichtelben. Welch seltsame Faszination doch von diesem Begriff ausging! Er wollte Marian nicht mehr aus dem Kopf gehen. Gar zu gern hätte sie gewusst, ob es so etwas wie Lichtelben gab. Aber in den Bücherregalen in der Halle, die Sereno ihnen zur Benutzung freigestellt und sogar empfohlen hatte, war kein einziges vernünftiges Lexikon zu finden. Nur Werke über die Gesangskunst, über Komponisten, Instrumentalisten, Dirigenten und Mäzene. Gewiss – Sereno besaß oben in seinen Privaträumen eine umfangreiche Bibliothek und ein Archiv – aber sie mochte ihn gerade jetzt, wo er ärgerlich auf sie war, nicht gern um etwas bitten.
    Die große Standuhr in der Halle tat sechs Schläge – draußen war es bereits stockdunkel, nur im gelblichen Lichtkreis der beiden Außenlaternen konnte man die dicken wattigen Schneeflocken sehen. Die Laternen standen rechts und links des Aufgangs zum Säulenvorbau, damit Sereno und seine beiden Schülerinnen den Weg leichter fanden, wenn sie nachher zurückkehrten.
    Marian überlegte. Gegen achtzehn Uhr, also jetzt, würde das kleine Weihnachtskonzert in St. Jacob beginnen. Sie stellte sich vor, wie Elisabeth und Lillian in der kalten Kirche auf unbequemen Holzbänken saßen, fröstelnd, die Umschlagtücher über ihr Knie gelegt, und auf ihren Auftritt warteten. Wahrscheinlich würde der Organist einige magere Stückchen zum Besten geben, dann sang der Kirchenchor Choräle, und Reverend Jasper las passende Bibeltexte. Irgendwann zwischendrin waren dann Elisabeth und Lillian an der Reihe, vermutlich würde der Organist sie begleiten und dabei eine Menge falscher Töne einbauen – wieso hatte sie die beiden eigentlich beneidet?
    Gegen halb acht würde das Konzert auf jeden Fall zu Ende sein, und es war Serenos Gewohnheit, danach sofort zurückzufahren. Um neun Uhr wären sie wieder hier in der Villa.
    Drei Stunden Zeit, um oben in Serenos »Archiv« nach einem vernünftigen Lexikon zu suchen, den Begriff »Lichtelben« nachzuschlagen und

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