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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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hatte diese Regel respektiert und war kein einziges Mal heimlich bei ihr eingedrungen. Schon deshalb, weil er sich einer solchen Versuchung nicht aussetzen durfte.
    Jetzt aber lagen die Dinge anders. Sie hatte die Elbenschrift gefunden, das war eine Katastrophe, mit der er nicht gerechnet hatte. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, in Serenos Archiv herumzuschnüffeln? Oh, er hatte schon eine vage Ahnung gehabt, als sie unten in der Halle die Regale durchsuchte und dann mit einem Lexikon davonging! So schlau sie sich auch herausredete, sein Gespür hatte ihm doch verraten, dass sie ihm etwas verschwieg.
    »Marian!«, rief er mit halblauter Stimme. »Lass mich bitte ein – ich werde dir nichts tun, das schwöre ich!«
    Es war ihm gleich, dass die eifrige Mrs. Waterfield ihn möglicherweise hören konnte, denn in der Aufregung war die Verwandlung von ihm abgefallen. Darion der Nachtschattenkrieger war für Menschen nur als grauer Nebel wahrnehmbar. Marian aber, die eine Lichtelbin war, konnte ihn sehen.
    Natürlich antwortete sie nicht. Weshalb sollte sie seinen Versprechungen glauben, er war ja selbst nicht einmal sicher, ob er die Kraft besitzen würde, sie einzuhalten. Und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als in diesen Raum einzudringen. Das Buch, das jetzt in ihren Händen war, barg nicht nur wichtige Erkenntnisse, die ihn auf die Spur des Geheimnisses führen konnten, es würde Marian vor allen Dingen eröffnen, wer sie beide in Wirklichkeit waren: eine Lichtelbin und ein Nachtschatten; sie waren schon als Feinde geboren. Wenn Marian erst begriff, dass ein Nachtschatten ihre Mutter getötet hatte, wenn ihr klar wurde, dass auch er, Darion, Jagd auf die zerstreut lebenden Elben gemacht hatte – wie sollte sie dann noch Vertrauen zu ihm gewinnen? Wie sollte sie ihm jemals glauben können, dass er sie liebte? Sie würde ihn hassen.
    Ach, er hatte ihr all diese Dinge in Ruhe erklären wollen, doch dazu war es jetzt zu spät! Vermutlich hatte sie schon zu lesen begonnen – er musste handeln.
    Das zerknüllte Papierstückchen, mit dem sie das Schlüsselloch verstopft hatte, war herausgefallen, als sie die Tür zuschlug – der Weg durch die kleine Öffnung war frei. Zu seiner Erleichterung brannte in ihrem Zimmer nur die Kerze. Sie hatte das Gaslicht nicht angezündet, was den Raum in angenehmer Dämmerung beließ. Zuerst fürchtete er, sie könnte bei seinem Anblick laut schreien oder irgendwelchen anderen Unsinn begehen. Dann jedoch stellte er fest, dass sie zusammengekauert auf ihrem Bett lag und ihn gar nicht bemerkt hatte. Es hatte etwas rührend Kindliches an sich, wie sie mit hochgezogenen Knien auf der Seite lag, den Folianten an ihre Brust gepresst, als müsste sie sich an den kantigen Buchdeckeln festhalten. Ihm wurde bewusst, dass sie seinetwegen so angstvoll verharrte, und das machte ihn beklommen. Seine Hoffnung, sie für sich zu gewinnen, sank erneut.
    »Hör mir zu, Marian!«, flüsterte er. »Du wirst am Tisch bei der Lampe sitzen und mir vorlesen, und ich werde hier an der Tür stehen bleiben. Ich werde dich nicht berühren, aber ich muss dir erklären, was dort geschrieben steht! Wenn ich das nicht tue, kann etwas Schlimmes geschehen …«
    Sie fuhr hoch, als sie seine Stimme hörte, und der entsetzte Ausdruck ihrer schönen Elbenaugen tat ihm weh. In diesem Augenblick begriff sie, dass sie wohl den armen Jonathan Mills aus ihrem Zimmer aussperren konnte, nicht aber Darion, den Geist der Nacht, für den verschlossene Türen kein Hindernis darstellten. Schon wollte er sie für sein Eindringen um Verzeihung bitten, da verwandelte ihr Schrecken sich in Zorn, und sie blitzte ihn mit böse funkelndem Blick an.
    »Was auch immer in diesem Buch steht«, zischte sie, »ich brauche ganz sicher niemanden, der meinem Verständnis auf die Sprünge hilft! So dumm, wie du glaubst, bin ich nicht, du jämmerlicher Angeber!«
    »Bitte, Marian … Du ahnst nicht, was auf dem Spiel steht …«
    »Und du ahnst nicht, wozu ich fähig bin, verlogener Geist!«
    Sie schleuderte ihr Kopfkissen auf ihn, das an seiner Brust landete und zu Boden fiel. Ihr Zorn war beeindruckend, und doch war er froh darüber, denn nun hatte er den Beweis, dass auch sie ihn liebte.
    »Sobald ich die Lampe anzünde, bist du klein wie ein Fingerhut vor Angst!«, höhnte sie, während sie vor Aufregung zu zittern begann.
    Er war nach der Lichtfolter zwar etwas unempfindlicher gegen den hellen Lampenschein geworden, dennoch gefiel ihm diese

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