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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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und funkelte! Sie stutzte und stellte die Lampe ab, um den Folianten aus dem Regal zu nehmen, und kaum hielt sie ihn in ihren Händen, öffnete das Buch sich wie von selbst. Die Seiten waren nicht aus Papier, sondern aus hartem Pergament und waren von Hand mit hellgrüner Tinte beschrieben. Ihr Herz raste plötzlich, wollte sich überschlagen, in ihren Ohren dröhnte es. War es der Aufruhr in ihrem Inneren, oder sah sie tatsächlich zwischen den handgeschriebenen Zeilen hügelige Landschaften, Felsen und dichte Wälder? Welcher Zauberwind blätterte die Seiten um, wendete sie eine nach der anderen und verursachte dabei ein Geräusch, das an fließendes Wasser erinnerte?
    Das muss ein Geisterbuch sein, dachte Marian. Und es ist für mich bestimmt.
    Dessen war sie sich ganz sicher, denn der Foliant drängte sich ihr förmlich entgegen, schien sie anzuflehen, sich auf seinen Inhalt einzulassen.
    Sereno wird bemerken, wenn ich das Buch mitnehme, überlegte sie beklommen. Und dann kommt heraus, dass ich heimlich hier herumgeschnüffelt habe …
    Doch die Macht des Folianten war stärker als alle Bedenken. Sie klemmte ihn unter den Arm, löschte die Petroleumlampe und ging leise beim Schein der Kerze aus der Bibliothek. Schwer legte sich der Dunst des Raumes auf sie, schien sich drohend über ihr zu verdichten und wie mit Armen nach ihr greifen zu wollen. Sie war eine Diebin, trug einen Schatz davon, der Sereno gehörte. Wenn Mrs. Waterfield sie jetzt erwischte, hatte sie allen Grund, sie zu verurteilen. Marian schlich von Schuldbewusstsein niedergedrückt durch den Unterrichtsraum, und es schien ihr, als hörte sie die zornige Stimme ihres Lehrers, die ihr befahl, ihre Beute sofort wieder in sein Archiv zurückzutragen.
    Die Kerze war fast heruntergebrannt, als Marian endlich mit rasendem Puls vor ihrem Zimmer ankam. Eilig wollte sie den Türknauf drehen, um so schnell wie möglich in den sicheren Raum zu gelangen – da vernahm sie hinter sich eine bekannte Stimme.
    »Oh, Miss Marian! Ich habe auf Sie gewartet.«
    Erleichtert stellte sie fest, dass es Mills war. Gut – er hatte sich vorhin wie ein Gentleman benommen, sie musste sich bei ihm bedanken. Auch wenn es ihr nicht gefiel, dass er ihr hier im dunklen Flur auflauerte und sie zu Tode erschreckt hatte.
    »Mr. Mills – es war sehr anständig von Ihnen, meine Gegenwart Mrs. Waterfield gegenüber nicht zu erwähnen. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar dafür. Jetzt aber möchte ich gern zu Bett gehen.«
    Ohne sich zu ihm umzuwenden, öffnete sie ungeduldig ihre Zimmertür und wollte hineinschlüpfen, doch er war beharrlicher, als sie geglaubt hatte.
    »Es wird nicht lange dauern, Miss Marian. Ich bitte Sie inständig, mich anzuhören. Es geht um … es geht um diesen Folianten, den Sie unter dem Arm tragen.«
    Fast wäre sie schon in ihrem Zimmer verschwunden, doch als Jonathan den Folianten erwähnte, verharrte sie zwischen Tür und Angel. Wie peinlich – er hatte es bemerkt! Dieser Mensch musste wie eine Katze im Dunkeln sehen können.
    »Ich … ich will das Buch nur für kurze Zeit ausleihen«, stotterte sie.
    »Es ist ein besonderes Buch, Marian. Sie sollten auf keinen Fall ganz allein darin lesen.«
    Das war nicht Jonathan Mills’ Stimme und auch nicht seine devote, unentschlossene Art zu sprechen. Der Satz klang energisch, fordernd. Wer – um alles in der Welt – stand dort in der Dunkelheit?!
    »Ich begreife nicht …«
    »Was in diesem Buch steht, könnte für Sie sehr verwirrend sein. Deshalb bitte ich Sie, es mit mir gemeinsam zu lesen.«
    »Mit … mit Ihnen gemeinsam?«
    »Ja, denn Sie werden jemanden brauchen, der Ihre Fragen beantworten und Ihnen vieles erklären kann.«
    »Sie sind ja vollkommen verrückt geworden, Mills! Sie sind doch Jonathan Mills, oder etwa nicht?«
    Sie spürte, dass ihre Frage sehr hell, fast zittrig klang. Weshalb fragte sie überhaupt? Sie wusste doch ganz genau, dass dort nicht Jonathan Mills stand. Es war der andere, es war …
    »Lass mich in dein Zimmer, Marian!«, flehte Darions warme Stimme. »Dort will ich dir alles erklären.«

Kapitel 17
    »Ich denke nicht daran!«
    Marian schlug die Tür so fest hinter sich zu, dass Kalk und Staub als feiner Nebel aus der Türfüllung quollen. Was hatte er auch erwartet? Sie war in einem Pensionat erzogen worden, dort hatte man ihr beigebracht, dass eine anständige junge Frau niemals einen Mann in ihr Schlafzimmer einließ. Wogegen grundsätzlich nichts zu sagen war, auch er

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