Gesang der Rosen
führen …
André … ich warte …
Jeanette ging zum Fenster, stand sinnend davor, lehnte den Kopf an den weiß gestrichenen Rahmen und blickte in den blühenden Garten hinaus, in diese ewig grünende und sprießende Kraft sonnentrunkener Natur, und fragte sich, ob sie André für seine Gabe nun gleich danken sollte, was vorausgesetzt hätte, daß sie auf den Hügeln nach ihm suchte.
Die Tür in ihrem Rücken ging und schreckte sie auf. Die Mutter war ins Zimmer getreten und stand nun kopfschüttelnd ihrer Tochter gegenüber. Sie hatte die Schürze an zwei Zipfeln gefaßt und hochgezogen, ein paar Melonen hineingelegt, die den Anschein erwecken sollten, als ob sie soeben aus dem Garten käme. Tergnier liebte es nämlich nicht, daß nach seinem mißglückten Polterauftritt seine Autorität noch mehr zerbröckelte, indem darüber von Weib und Kind auch noch gesprochen wurde.
»Warum hast du dem Vater den Fetzen nicht gegeben?« sagte die Mutter mißbilligend zur Tochter. »Jetzt ist sicher wieder tagelang der Teufel los.«
»Ich konnte nicht, Mutter.«
»Warum nicht?«
»Das wäre Verrat von mir gewesen, Mutter.«
»Welcher Verrat?«
»Vater hätte das Gedicht gar nicht lesen dürfen. Schon dies mache ich mir zum Vorwurf. Ihm es zu geben war gänzlich unmöglich. Ich habe André bei eurem Augenlicht schwören müssen, daß keiner von den Versen überhaupt etwas erfährt.«
Die Mutter, rasch besänftigt, nickte nun, denn der Jugend Schwüre sind voller Überschwang, das wußte sie. Die träumerischen Augen ihrer Tochter weckten in ihr Erinnerungen an die Zeit, in der sie mit leichtem Sonnenschirm zur Arena gewandert war, um Arles berühmtesten Torero zu sehen, den jungen, schlanken François Dupont, der die Stiere unter dem Jubel der Massen mit dem Blütenkranz schmückte. Damals war sie der Schwarm der jungen Burschen gewesen und hatte unter Mandelbäumen gekichert, daß den Männern heiß das Blut durch die Adern rann.
»Liebst du André?« fragte sie deshalb, noch halb im Banne der Erinnerung.
»Lieben? Was heißt lieben?« entgegnete Jeanette. »Ich seh' ihn gern, und manchmal, ja, Mutter, manchmal möchte ich, daß er den Arm um mich legt und mir süße Worte sagt, Worte, Mutter, die man nie vergißt und von denen man noch träumt, wenn man so alt ist wie du.«
Die Mutter nickte. »Also liebst du ihn.«
»Meinst du?« antwortete Jeanette, und ihre Augen waren groß und dunkel, weil in ihnen die Frage nach dem Leben lag. »Meinst du, daß das schon die Liebe ist? Ich weiß es nicht.«
»Du wirst es erfahren. Im Grunde ist jede Liebe ein großer Wunsch.«
»Und was ist die Erfüllung?«
»Die Ernte deines Lebens, die du speichern mußt. Von ihr zehrst du, wenn deine Welt arm wird an Liebe und du einsam bist unter Menschen.«
Die Mutter trat auf ihre Tochter zu und strich ihr mit der rissigen, verarbeiteten Hand über die braune, glatte Stirn. Jeanette empfand diese seltene Liebkosung wie einen tiefen Blick in die Geheimnisse der Seele ihrer Mutter und schloß die Augen, sich ganz der mütterlichen Hand hingebend. So selten war das Erlebnis eines kleinen Glücks der Geborgenheit, daß Jeanette selbst dann, als die Mutter ihre Hand schon wieder zurückgezogen hatte, noch nicht aufblickte, sondern mit geschlossenen Augen das sanfte Gleiten der Finger über ihre Stirn in ihrem Innern nachwirken ließ.
»Sei aber vorsichtig, Kind«, sagte schließlich die Mutter, die an die Jugend ihrer Tochter dachte. »Die Liebe birgt auch viele Gefahren in sich. Ihre größte ist die Enttäuschung. Laß dir deshalb Zeit. Unter diesem Blickwinkel wäre es wohl wirklich das Beste, André mit keinen anderen Augen als denen der Freundschaft zu sehen, weil es sonst sein kann, daß nur Tränen, Schläge und große Not im Haus drohen. Du mußt jetzt von der Kindheit weg und unterscheiden lernen, was gut fürs Leben ist und was dir Sorgen bringt.« Sie drehte eine der schwarzen Locken Jeanettes um ihren Zeigefinger, während sie mit einer hilflosen Traurigkeit auf ihre Tochter blickte. »Sei klug, Mädchen – überlege, was du tust.« Und leise fügte sie hinzu, und ihre Stimme klang so weh und ohne Trost: »Der Mensch merkt allzuoft erst spät, daß es sein Herz war, das ihm Unglück brachte.«
Mit schlurfenden Schritten verließ die erfahrene alte Frau das Zimmer, begab sich in die Küche, setzte sich neben den Ofen zu ihren Töpfen und Schüsseln und weinte lautlos in ihre Schürze, in der sie ihr faltiges, einstmals
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