Gesang des Drachen
stehen, der die Hütte umgab und dafür sorgte, dass die Tiere nicht wegliefen. »Was sagst du da?«
Im Vogelgesicht seiner Mutter ließen sich Gefühle nur erahnen, aber ihre Stimme war voller Mitleid. »Sie muss dich lieben, Peddyr. Du bist ihr Bruder ... und mein Sohn. Ich liebe dich auch.«
Er warf Kalany einen kurzen Blick zu. Nach einem Moment nickte diese widerwillig.
»So ein Blödsinn. Ihr liebt mich nicht. Ihr könnt mich ja nicht mal leiden.«
»Das war falsch von uns«, sagte seine Mutter in mitleidigem Tonfall. Noch nie zuvor hatte sie so mit ihm gesprochen. »Wir hätten dich vom ersten Tag an lieben müssen, das verstehen wir jetzt. Er hat uns die Augen geöffnet.«
»Er?« Peddyr wich einen Schritt zurück. »Meint ihr etwa den Schattenlord?«
Dieses Mal nickte Kalany. »Unseren Herrn.«
Seine Mutter streckte beide Flügel aus. »Es ist noch nicht zu spät. Du kannst dich uns anschließen und seine Liebe erfahren. Er wird dich aufnehmen, da bin ich mir sicher. Es spielt für ihn keine Rolle, wie du aussiehst. Seine Liebe ist grenzenlos.«
Sie schien darauf zu warten, dass er ihre gefiederten Hände in die seinen nahm und sich von ihr mitziehen ließ, wohin, wusste er nicht.
»Wo ist Vater?«, fragte er, ohne auf ihre Geste zu reagieren.
»Er ist mit deinen anderen Schwestern schon unterwegs zum Dorfplatz. Wir sollen uns dort alle treffen.« Seine Mutter senkte die Flügel nicht. »Es würde sie so glücklich machen, wenn du dich uns anschließen würdest. Er hat eben noch von dir gesprochen.«
»Wirklich?« Sein Vater redete sonst nur mit Peddyr, um ihn daran zu erinnern, dass seine Geburt das Ansehen der Familie ruiniert hatte.
Kalany nickte. »Wir vermissen dich alle.«
Es klang gezwungen, aber sie tat ihr Bestes, das konnte Peddyr sehen. Er ertappte sich bei der Vorstellung, die Hände seiner Mutter zu ergreifen und mit ihr zum Dorfplatz zu gehen. Er war sich sicher, dass sie und Kalany nicht logen. Die Gläubigen würden ihn in ihre Gemeinschaft aufnehmen, ihn willkommen heißen. Sie würden ihn grüßen, wenn sie ihn morgens trafen, und ihm einen schönen Tag wünschen.
Wäre es so schlimm, sich dafür dem Schattenlord zu unterwerfen?, fragte er sich. Beinahe ungewollt streckte er die Hände aus.
Doch dann sah er plötzlich wieder den schreienden, fallenden Menschen vor sich und hörte den Aufschlag im Unterholz. Entsetzt zog er die Hände zurück.
»Nein!«, stieß er hervor. »Der Schattenlord ist nicht die Liebe. Er ist der Hass. Ihr habt euch von ihm blenden lassen, aber ich werde das nicht tun. Lasst mich in Ruhe!«
Mit seinen kräftigen Raubvogelbeinen stieß er sich ab und machte einen Satz nach hinten. Seine Schwester schlug so wütend mit den Flügeln, dass sie vom Boden abhob. Staub wallte auf.
»Ich hab es doch gesagt, Mutter!« Ihre helle Stimme kippte. Sie krächzte nun. »Niemand, der so hässlich ist, kann etwas so Schönes wie den Schattenlord begreifen. Er ist und bleibt verflucht!«
Seine Mutter ließ langsam die Flügel sinken. »Peddyr ...«
Er unterbrach sie. Tränen stiegen ihm in die Augen, aber er blinzelte sie weg. »Du tust das nicht aus Liebe, sondern weil du dem Schattenlord gefallen willst. Keiner von euch hat mich je geliebt. Wie könntet ihr auch!«
Peddyr fuhr herum und rannte den Weg hinunter. Seine Mutter rief ihm etwas nach, aber sein Herz klopfte so laut, dass er sie nicht verstand. Und selbst wenn, wäre er nicht zurückgekehrt. Sein Leben in der kleinen Hütte war vorbei. Der Schattenlord hatte Peddyr selbst das bisschen Familie, das die Götter ihm zugestanden hatten, genommen. Es gab nur noch einen Ort, an dem er willkommen war.
Peddyr schob schwer atmend einige Zweige beiseite und betrat die sandige Bucht. Der Fluss funkelte im hellen Sonnenlicht.
»Marcas?«, rief Peddyr auf das Wasser hinaus. Nur das Plätschern des Wassers antwortete ihm.
Er wusste, dass sein Freund in der Nähe sein musste, denn er fühlte sich nur im Wasser wohl. Dort war er so schnell, dass selbst die Fische seinen Tentakeln nicht ausweichen konnten. An Land war er jedoch beinahe hilflos.
»Marcas!«
»Er ist nicht hier«, sagte eine dunkle Stimme.
Peddyr drehte den Kopf und sah einen schlanken, schwarzhaarigen Mann, den er aus der Siedlung der Menschen kannte. Erst nach einem Moment fiel ihm dessen Name ein. Er hieß Maurice.
»Und wo ist er?«, fragte Peddyr. Er hatte keine Angst, nur ein seltsam mulmiges Gefühl im Magen. Noch nie hatte er Maurice am
Weitere Kostenlose Bücher