Gesang des Meeres - Feehan, C: Gesang des Meeres - Turbulent Sea (6 - Joley u. Ilya Prakenskii)
arbeitete am liebsten allein und gab von sich aus nicht oft Informationen preis. Unter dem Strich hieß das, dass sie keine Ahnung hatte, wo er sich aufhielt oder auch nur, ob er in Sicherheit war.
Joley lehnte sich seufzend an die Brüstung und ließ sich vom Wind das Haar aus dem Gesicht wehen. Sie atmete die salzige Luft tief ein, schmeckte die Gischt und fühlte sich unruhig und leer. Wo bist du? Sie würde nicht warten, bis er zu ihr kam, denn das konnte noch lange dauern. Es war zwei Uhr morgens. Sie fand sich damit ab, dass ihr eine weitere schlaflose Nacht bevorstand. Sie vermisste Ilja so sehr, dass sie es kaum noch im Haus aushielt. Sie wollte draußen bleiben, in der Nähe des Meeres, wo der Wind ihr Nachrichten von ihrem Mann übermitteln konnte. Wo bist du?
Sie zog ihren Umhang enger um sich und setzte ihre lange Nachtwache fort. Tief in ihrem Innern brodelte es wie das ungestüme
Meer. Ihr Gehirn weigerte sich, Ruhe zu geben; Wogen der Angst wälzten sich durch sie hindurch, eine nach der anderen, und beschworen Bilder von jeder erdenklichen Verletzung oder Todesart herauf, die Ilja zustoßen konnte. Was war, wenn er nie mehr zu ihr zurückkam? An ebendiesem Ort hatten schon so viele Frauen vor ihr gestanden und auf einen Mann gewartet, der nicht nach Hause gekommen war, und sie hatten nie erfahren, wo sein Schiff gesunken war. Das konnte passieren. Er würde schlicht und einfach verschwinden, und niemand würde jemals etwas darüber in Erfahrung bringen.
Wo bist du? Sie presste sich eine Hand auf den Bauch. Sie brauchte Frieden. Sie brauchte Ilja. Komm nach Hause zu mir. Komm einfach nach Hause.
Der Wind zog an ihrem Haar und kitzelte ihre Haut wie kleine Finger, die sie auf etwas aufmerksam machen wollten. Sie atmete tief ein, und ein schwacher Geruch stieg ihr in die Nase.
Alles in ihrem Innern erstarrte. Im ersten Moment war sie vor Furcht gelähmt. Vielleicht gaukelte ihre Wahrnehmung ihr etwas vor. Sie drehte sich langsam um und trat an die Brüstung, blickte hinunter, aber nicht auf das Meer, sondern erstmals auf den Pfad, der zum Haus hinaufführte. Sie hatte sich bisher nicht gestattet, dorthin zu blicken, zu hoffen oder gar zu glauben, er würde tatsächlich da sein.
In der Ferne konnte sie schwach einen Mann mit breiten Schultern erkennen, der aus der Dunkelheit und ein paar Nebelfetzen auftauchte und forsch ausschritt. Diesen Gang hätte Joley überall erkannt. In der Nacht war er ein dunkler Schatten, der sich verstohlen und doch kraftvoll bewegte. Als er auf das Tor zuging, hielt sie den Atem an. Das Haus der Drakes besaß seine eigenen magischen Kräfte und an den Flügeln dieses hohen Tores war ein Vorhängeschloss angebracht. Das Haus würde jede der Drake-Frauen vor einer Bedrohung beschützen, falls es nötig sein sollte. Ilja verlangsamte seine Schritte nicht, obwohl er gesehen haben musste, dass das eiserne
Tor verschlossen war. Gewiss kannte er diese alten schützenden Symbole, und doch lief er erhobenen Hauptes mit schnellen Schritten darauf zu.
Joleys Puls beschleunigte sich, und ihr Herz schlug viel zu heftig. Ihre Knie wurden so weich, dass sie sich an der Brüstung festklammerte. Tränen brannten in ihren Augen und verschleierten ihre Sicht. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte und sie zu ersticken drohte. Ilja. Ihr Ilja. In dem Moment brachte sie kein Wort heraus und konnte sich nicht von der Stelle rühren, noch nicht einmal, um ihn bei seinem Namen zu rufen. Grenzenlose Freude erfüllte sie.
Das Vorhängeschloss fiel schlicht und einfach auf den Boden und die Flügel des Tores sprangen auf. Das Quietschen drang laut durch die Stille der Nacht, als das schwere Metall sich in der Mitte teilte, um ihn willkommen zu heißen. Ilja lief den gewundenen Pfad hinauf durch den Garten, der sogar jetzt, mitten im Winter, von Blumen übersät war. Hinter ihm schloss sich das Tor mit einem lauten Knall, und das Vorhängeschloss sprang vom Boden an seinen früheren Platz zurück, um den Eingang wieder zu bewachen.
Joley ließ ihr Cape fallen und rannte los. Sie wedelte mit der Hand, und die Tür öffnete sich für sie. Sie raste durch den Flur und sprang die Treppe hinunter, jeweils zwei Stufen auf einmal. Im Haus war es dunkel und kalt, ein Spiegelbild ihres Innern. Sie hatte sich nicht dazu aufraffen können, ein Feuer anzuzünden oder wenigstens eine Tasse Tee zu kochen, aber die Dunkelheit hinderte sie nicht, denn sie kannte jeden Schritt auf dem Weg zur Haustür, und
Weitere Kostenlose Bücher