Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
hatte Oma immer schon sehr gerne gemocht.
Meine Mutter begann leicht zu heulen und schnäuzte sich. Danach tupfte sie vorsichtig mit dem zerknüllten Taschentuch unter ihre Augen, um die Tränen zu trocknen, ohne ihre Schminke zu verwischen.
»Ach, es ist alles so furchtbar. Ich habe seit Tagen nicht geschlafen. Komm, Janine. Wir müssen los.«
Auf der Straße vor dem Gartentürchen stand ein Taxi. Meine Mutter hatte es dort warten lassen. Eigentlich liebte ich Taxifahren, aber heute war die Fahrt schrecklich. Ich musste die ganze Zeit an Oma denken. Meine Mutter ging mir jetzt schon auf die Nerven.
Als wir zwanzig Minuten später das Krankenzimmer betraten, bekam ich einen Schock. Oma sah grauenhaft aus! Es kam mir so vor, als wäre sie nur noch halb so groß wie früher. Sie war ganz grau im Gesicht und hatte viele Falten. Aber das Schlimmste war: Sie hatten ihr die Haare ganz kurz abgeschnitten! Sie lächelte, aber ich sah, wie viel Mühe es ihr bereitete. Ich lief zu ihrem Bett und umarmte sie vorsichtig. Sie kam mir vor wie ein kleines Vögelchen, bei dem man aufpassen muss, dass man es nicht zerdrückt.
»Janine, ist das schön, dass wir uns noch mal sehen. Ach, mein Engel!«, sagte sie ganz leise.
Plötzlich wusste ich, dass sie nicht mehr gesund werden würde. Dass heute vielleicht das letzte Mal war, dass ich sie sah. Weil sie sterben würde. Mein Hals war wie zugeschnürt. Ich hatte schreckliche Angst.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, löste ich mich aus der Umarmung, nahm meinen Rucksack von den Schultern und holte Cheeta heraus.
»Ich dachte, du wolltest Cheeta vielleicht auch noch einmal sehen«, murmelte ich und hielt Oma den Stoffaffen hin.
»Eine wunderschöne Idee, danke, Janine!«, sagte Oma lächelnd und nahm Cheeta in den Arm. »Aber du spielst nicht mehr mit ihr, oder? Mit vierzehn spielt man doch nicht mehr mit Stofftieren, da ist man ja schon fast erwachsen!«
Ich musste lächeln. »Ja, du hast recht, ich spiele nicht mehr mit Stofftieren. Aber in meinem Bett darf Cheeta trotzdem schlafen.«
Plötzlich begann meine Mutter laut zu schluchzen. Sie stand vor dem Fenster, hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen und beugte sich nach vorne, als hätte sie Magenkrämpfe.
»Ach, Kind«, sagte Oma leise und blickte zu ihr rüber.
Meine Mutter richtete sich wieder auf. Sie schüttelte immer wieder den Kopf und unter lauten Schluchzern rief sie: »Das darf nicht sein, das darf einfach nicht sein! Du darfst mich jetzt nicht alleine lassen!«
»Ruhig, Kind, ruhig!«, sagte Oma und versuchte, sich aufzurichten. Aber es fehlte ihr die Kraft, das konnte ich sehen.
Ich wurde wütend. Jetzt musste Oma auch noch meine Mutter trösten. Dabei war Oma doch die, die hier am meisten litt! Konnte sich meine Mutter nicht ein bisschen mehr zusammenreißen? Oma war immer unglücklich darüber gewesen, dass wir keine richtige Familie waren. Oma hatte sich dauernd Sorgen um sie machen müssen. Ohne sie würde so viel fehlen! Was sollte bloß werden, wenn sie nicht mehr da war?
Ich musste mich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht auszuflippen und meine Mutter anzuschreien. Aber ich dachte an Mamas Worte, dass es für Oma noch schlimmer war, wenn wir uns stritten. Also schaute ich grimmig zu meiner Mutter rüber und hoffte, dass sie sich endlich beruhigte. Plötzlich wurde mir klar, was passieren würde, wenn Oma nicht mehr da wäre: Es würde noch schwieriger für mich werden, weil das wichtigste Verbindungsglied zwischen meiner Mutter und mir weg sein würde. Schon jetzt war sie mir so fremd. Wie sollte ich mich ihr ohne meine Oma noch verbunden fühlen?
Ich hätte gerne etwas Liebes zu Oma gesagt, aber es war so schwer, den richtigen Satz zu finden. Außerdem hatte ich einen dicken Kloß im Hals. Wenn ich etwas sagen würde, müsste ich bestimmt auch losheulen. Das wollte ich auf keinen Fall. Das wäre das Schlimmste überhaupt. Deshalb sagte ich gar nichts und hoffte, dass meine Mutter sich bald zusammenreißen würde.
Oma lag nur da – ein krankes, graues Vögelchen. Ihre Stirn hatte lauter Sorgenfalten und sie sah sehr, sehr erschöpft aus.
Plötzlich ging die Tür auf und eine Krankenschwester kam herein. Sie sah zu meiner Mutter und dann zu Oma und mir. Sie hatte die Situation sofort durchblickt, ging zu meiner Mutter, fasste sie an den Schultern und führte sie aus dem Krankenzimmer heraus. »Na, kommen Sie mal mit, ich geb Ihnen was zur Beruhigung«, sagte
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