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Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Titel: Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Kunze
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normal. Sie ging quer durch die Wohnung in die Küche. Ich folgte ihr, weil ich in den verlassenen Zimmern nicht so gerne alleine sein wollte. Sie öffnete die beiden Türen zum Küchenbalkon und trat hinaus.
    »Oh Gott, sieh nur, Janine, der Spatz!«, rief sie mir zu.
    Ich ging zu ihr auf den Balkon und sah einen Spatz, der auf dem Geländer herumhüpfte. Er legte den Kopf schief und sah uns an. Er schien überhaupt keine Angst vor uns zu haben. Ich erinnerte mich, dass Oma immer ein bisschen Vogelfutter in einem Schraubglas auf dem Fenstersims der Speisekammer stehen hatte. Das kleine Fenster der Speisekammer ging auf den Balkon raus. Ich drehte mich um und richtig, da stand es! Mit möglichst wenigen, langsamen Bewegungen nahm ich das Glas, schraubte den Deckel ab und griff hinein. Ich streckte meine Hand mit den Körnern langsam in Richtung Spatz aus. Er guckte auf die Körner und legte wieder den Kopf schief. Die Körner auf meiner Hand lagen jetzt direkt unter ihm, wie auf einem Teller. Er pickte in meine Hand und schnappte sich ein paar Körner. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen und möglichst flach zu atmen, um ihn nicht zu verscheuchen.
    »Oh mein Gott, das ist die Oma!«, flüsterte meine Mutter neben mir.
    Ich dachte, ich hätte mich verhört.
    »Was?«, flüsterte ich zurück.
    »Das ist die Oma, die hat sich in einen Vogel verwandelt, Janine. Sie wollte uns noch mal besuchen! Oh Gott!« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Gleich würde sie garantiert wieder anfangen zu heulen.
    »So ein Schwachsinn!«, sagte ich und ließ meine Hand sinken. Die restlichen Körner in meiner Hand fielen auf den Balkonboden und der Spatz flog zwei Meter weg, wo er sich wieder auf das Geländer setzte.
    Meine Mutter schluchzte auf. Ich ging in die Wohnung. Lieber alleine in einem leeren Zimmer sein, als mir diesen Quatsch anhören!
    Ich durchstreifte das Esszimmer, das Wohnzimmer und das Schlafzimmer. Überall waren Gegenstände, die mich an Erlebnisse mit Oma erinnerten: ihre Steiff-Tiere, die auf einer Anrichte im Wohnzimmer saßen. Ein Foto von uns beiden auf einem Regal in der Schrankwand, auf dem ich mein weißes Kommunionskleid trug. Eine von mir getöpferte Schale, die im Esszimmer in der Vitrine einen Ehrenplatz bekommen hatte.
    Nach einer Weile ging ich wieder in die Küche. Meine Mutter stand immer noch auf dem Balkon und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie starrte auf den kleinen Spatz, der mittlerweile auf den Balkonboden gehüpft war und die Körner, die ich dort verstreut hatte, aufpickte.
    »Das ist die Oma, echt! Sie ist zurückgekommen!«, murmelte sie.
    Ich musste hier weg, dachte ich. Nach einer Ewigkeit kapierte meine Mutter, wie bescheuert ich diese Nummer fand, und hörte endlich damit auf. Sie schloss die Balkontür, holte eine große Schmuckschatulle aus dem Schlafzimmer und einen Ordner mit Papieren aus dem Wohnzimmerschrank. Dann bestellte sie ein Taxi und fuhr mich nach Hause.

Jugendamt
    Ein Kind kann einen Erwachsenen immer drei Dinge lehren: grundlos fröhlich zu sein, immer mit irgendetwas beschäftigt zu sein und nachdrücklich das zu fordern, was es will.
    PAULO COELHO
    »Kinder, übermorgen Nachmittag kommt Frau Antunes. Es gibt ein paar Sachen zu besprechen, da wäre es gut, wenn wir uns noch einmal in Ruhe zusammensetzen würden. Heute Abend nach dem Abendessen halten wir Familienrat und besprechen, was noch alles zu tun ist«, sagte Mama beim Mittagessen.
    Die Beerdigung von Oma war jetzt zwei Wochen her. Es war komisch, dass sie nicht mehr da war. Einfach weg. Sie fehlte mir.
    Zum Glück war super Wetter, obwohl es erst Mitte Mai war. So konnte ich viel unternehmen und mich ablenken. Heute Abend war eigentlich Leichtathletiktraining, zum ersten Mal dieses Jahr draußen auf dem Sportplatz. Aber ich wusste, dass man mit Mama bei dem anstehenden Besuch nicht diskutieren konnte. Ich würde hierbleiben müssen.
    Frau Antunes war die Mitarbeiterin des Jugendamtes, die für uns zuständig war. Sie kam mehrmals im Jahr zu Besuch. Mama war dann immer sehr nervös und kochte, putzte und backte noch mehr, als sie es ohnehin schon tat.
    Stefan verdrehte die Augen. Zum Glück hatte Mama das nicht gesehen. Wir alle hassten die Besuche vom Jugendamt.
    »Oh nee, nicht schon wieder! Ich kann übermorgen Nachmittag nicht, Mama!«, sagte Kerstin. Sie studierte zwar schon, wohnte aber immer noch bei uns in einem großen Zimmer im ausgebauten Dachgeschoss. Sie war schon dreiundzwanzig und konnte

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