Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
sie.
»Danke, Schwester«, sagte Oma erleichtert. Sie lächelte mich kurz an, dann sagte sie:
»Janine, mein Schatz, ich bin schrecklich müde. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber vielleicht schlaf ich gleich ein.«
Ich umarmte sie noch einmal so fest, wie ich mich traute. Oma küsste Cheeta auf die Stirn, dann gab sie sie mir zurück. Ich steckte Cheeta in den Rucksack.
»Janine?«, sagte Oma da ganz leise.
»Ja?«
»Komm noch mal her!« Omas Stimme war fast nur noch ein Flüstern.
Ich beugte mich langsam zu ihr. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich auf beide Wangen. Dann nahmen wir uns ganz fest in den Arm. Ich atmete tief und sog noch einmal ihren Geruch ein. Obwohl sie schon so lange im Krankenhaus war, roch sie immer noch nach ihrem Opium-Parfüm und nach frischem Kaffee. An diesen Geruch wollte ich mich mein ganzes Leben lang erinnern. Ich versuchte, ihn jetzt so intensiv wie möglich zu riechen, damit ich ihn nicht vergessen könnte. Ich spürte, wie mir zwei Tränen aus den Augen über das Gesicht rollten, und musste kurz schniefen. Für Oma wollte ich stark sein, aber es war so schwer! Ach Oma, wie sehr würde ich dich vermissen!
Eine Woche später starb sie. Zusammen mit Mama und Papa sprach ich ein Gebet für sie. Ich war sehr froh, dass Mama und Papa mit mir zu der Beerdigung gehen würden. Sie hatten Oma auch sehr gern gehabt.
Die Beerdigung war an einem Freitagvormittag. Papa hatte sich extra freigenommen und ich musste nicht zur Schule gehen. Als wir ankamen, war der Friedhof schon voller Menschen. So viele Leute hatten Oma gekannt! Die Kapelle, in der der Trauergottesdienst stattfand, war bis auf den letzten Platz besetzt. Viele Menschen mussten draußen bleiben, weil sie gar nicht alle reinpassten. Für mich war ein Platz in der ersten Reihe reserviert, neben Helmut und meiner Mutter. Aber ich stellte mich lieber zu Mama und Papa an den Rand. Papa stand hinter mir und legte seine Hände auf meine Schultern, Mama nahm meine Hand und hielt sie ganz fest. Vorne im Altarraum stand der Sarg. Auf seinem Deckel war ein riesiges Gesteck aus verschiedenen weißen Blumen. Vor dem Sarg lehnten mehrere Kränze, die mit Blumen und Schleifen verziert waren. Auf einer stand: In tiefer Trauer, Janine und Familie Kunze . Den Spruch und die Blumen hatte ich zusammen mit Mama ausgesucht. Es waren ganz viele verschiedene Blumen in allen Farben. Das passte am besten zu Oma, die immer so fröhlich gewesen war, auch wenn sie es oft schwer hatte, fanden Mama und ich.
Der Pfarrer hielt eine Rede und die Gemeinde sang zwei Lieder. Dann kamen die Träger, hoben den Sarg hoch und schritten langsam den Mittelgang der Kapelle entlang zum Ausgang. Die Leute reihten sich ein hinter den Sarg und gingen hinter ihm her. Keiner sagte ein Wort und man hörte nur die Glocken der Kapelle, die die ganze Zeit läuteten, bis wir am Grab angekommen waren. Die Träger stellten den Sarg auf ein Metallgestell, das über der Graböffnung angebracht war, sodass er über dem Grab schwebte. Die vielen Menschen stellten sich alle um das Grab herum. Mama sagte mir leise, ich sollte mich neben meine Mutter und Helmut stellen, weil die Leute uns gleich ihr Beileid aussprechen wollten.
Der Pfarrer sprengte etwas Weihwasser auf den Sarg und wir beteten zusammen das Vaterunser. Dann wurde der Sarg langsam ins Grab hinuntergelassen. Der Pfarrer nahm drei Mal mit einer kleinen Schaufel etwas Sand aus einer Schale, warf den Sand ins Grab und sagte dazu: »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Und nach einer kleinen Pause: »Ruhe in Frieden.«
Plötzlich ertönte ein lautes Schluchzen. Meiner Mutter liefen die Tränen über das Gesicht. Die rote Rose, die sie in der Hand gehalten hatte, fiel auf den Boden. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schwankte leicht. Helmut versuchte, sie zu stützen, aber sie sackte in sich zusammen. Sie kauerte in der Hocke am Boden und weinte. Helmut beugte sich zu ihr hinunter und versuchte, sie wieder nach oben zu ziehen. Leise redete er auf sie ein.
Es war schrecklich. Die anderen Leute sahen sie voller Mitleid an, aber mir war es vor allem peinlich. Warum tat sie mir nicht leid? Ich wandte mich ab und sah absichtlich in eine andere Richtung. Mit Omas Tod war etwas kaputtgegangen. Ich spürte gar keine Verbindung mehr zu ihr. Ich hatte mit dieser Frau nichts zu tun. Ohne Oma war sie mir so fremd. Ohne Oma gab es gar keinen Grund mehr, das nicht auch zu zeigen. Für sie hatte ich all
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