Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
ruhig. Du kannst meinetwegen genau das sagen, was du gerade gesagt hast. Aber verkneif dir die Kraftausdrücke und tu es, ohne zu schreien, okay? Denk einfach nach, bevor du anfängst zu reden!«
Der Tag, an dem Frau Antunes kommen sollte, war ein wunderschöner Tag und ich wäre viel lieber mit Silvia rausgegangen. Aber das ging natürlich nicht. Als es um halb fünf klingelte, blitzte und blinkte das ganze Haus. Ich fand ja, dass Mama übertrieb mit dem ganzen Aufwand. Bei uns war es sowieso schon immer super sauber und aufgeräumt. Andererseits achteten erwachsene Frauen oft auf so seltsame Dinge und bemerkten Veränderungen, die ich überhaupt nicht wahrnahm. Zum Beispiel sahen die gewaschenen Wohnzimmergardinen für mich genauso aus wie die ungewaschenen. Aber gestern war eine Freundin von Mama zu Besuch gewesen, die sofort registriert hatte, dass sie frisch gewaschen waren. Mir war völlig schleierhaft, wie sie das erkannt hatte.
Es gab Erdbeerkuchen mit Schlagsahne, Käsekuchen und eine große Thermoskanne mit Kaffee. Der Couchtisch war hübsch gedeckt und ich hatte in Mamas Auftrag extra noch ein paar Blümchen im Garten gepflückt. Ich ging mit Mama zusammen zur Tür, Papa wartete mit Kerstin und Stefan im Wohnzimmer.
Wir kannten Frau Antunes schon viele Jahre. Sie hatte einen spanischen Mann, deshalb hatte sie so einen seltsamen Namen. Ich glaube, sie mochte uns. Manchmal brachte sie Praktikantinnen mit und sagte dann so Sachen wie: »Die Kunzes sind mal ein wirklich positives Beispiel für eine Pflegefamilie!« Das gefiel Mama natürlich.
Obwohl wir Frau Antunes schon länger kannten und ich sie eigentlich nett fand, merkte man ihr an, dass sie aus einem bestimmten Grund kam. Ich fühlte mich immer total beobachtet. Ich hatte oft das Gefühl, dass sie gar nicht wirklich wissen wollte, wie es mir geht, auch wenn sie ständig danach fragte. Die Frau hatte irgendwie einen doppelten Boden.
Wir setzten uns alle auf die Couchgarnitur. Frau Antunes bedankte sich bei Papa und Kerstin, dass sie sich die Zeit genommen hatten, da zu sein.
»Manchmal ist es einfach wichtig, die ganze Familie zusammen zu sehen«, sagte sie und lächelte betont freundlich. Dann wechselten sie und Mama ein paar Sätze über das Wetter im Mai und unsere Urlaubspläne für dieses Jahr.
»Wie geht’s dir, Janine?«, begann sie schließlich ihre Fragerei.
»Gut, danke.«
»Ich hab gehört, dass deine Oma gerade gestorben ist? Das war sicher schlimm für dich, du hast sie doch sehr gerne gehabt, nicht wahr?«
»Ja, sie ist im April gestorben. Sie hatte einen Gehirntumor«, antwortete ich.
»Vermisst du sie sehr?«
Ich nickte.
»Und deine Mutter?«
»Die vermisse ich überhaupt nicht, ich gehe da auch nicht mehr hin. Dazu können Sie mich nicht zwingen«, ich hatte gar nicht nachgedacht, das war einfach so aus mir rausgesprudelt.
Mama zupfte nervös an einem der Sofakissen.
»Wem kann ich denn eigentlich ein Stück Kuchen geben? Frau Antunes?« Mamas Ablenkungsmanöver war super auffällig und total peinlich. Aber es funktionierte trotzdem und alle waren erst mal beschäftigt mit ihren Kuchenstücken und ihren Kaffeetassen. Frau Antunes lobte den Erdbeerkuchen, Mama sagte, dass Kerstin ihn gemacht hatte, und Frau Antunes lächelte ihr zu. Dann war die Schonfrist vorüber.
»Janine, jetzt hast du gerade gesagt, dass du nicht mehr zu deiner Mutter möchtest. Wie kommst du denn plötzlich auf die Idee?«
»Sie hat bei der Beerdigung total rumgeschrien und geheult. Das war voll ätzend und peinlich. Die ist völlig ausgeflippt. Sie muss sich immer in den Mittelpunkt stellen. So was würde Mama zum Beispiel nie tun«, versuchte ich, die Lage zu erklären.
»Aber findest du es denn nicht normal, dass sie traurig ist? Immerhin ist doch ihre Mutter gestorben. Du bist ja auch traurig, weil du deine Oma verloren hast, oder?«
»Ja, aber deshalb schreie ich nicht rum, als wäre ich verrückt geworden.«
»Jeder hat eben andere Wege, mit Trauer umzugehen. Da solltest du nicht so kritisch sein, meinst du nicht?«
Sie hatte überhaupt nicht verstanden, was ich gemeint hatte. Redete ich denn Chinesisch? Ich holte tief Luft.
»Ich bin nicht kritisch, aber ich möchte nicht mehr, dass sie mich abholt. Ich will da nicht mehr schlafen. Ich will da einfach nicht mehr hin, verstehen Sie?« Ich hatte ganz ruhig angefangen, aber dann war ich doch ein bisschen lauter geworden. Jetzt war ich richtig wütend und schrie: »Ich will ein Leben ohne
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