Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
eigentlich tun und lassen, was sie wollte. Trotzdem aß sie oft mit uns zu Mittag oder zu Abend und kochte sogar manchmal für uns alle.
»Da gibt’s kein ›Übermorgen kann ich nicht‹. Die Besuche des Jugendamts sind eine Pflichtveranstaltung, Kerstin. Und zwar für die ganze Familie. Und das weißt du genau. Solange du hier wohnst und Teil dieser Familie bist, bist du mit dabei.«
Kerstin nickte missmutig. Sie war nicht sauer, aber es passte ihr wohl einfach nicht in den Kram. Ich stocherte auf meinem Teller rum. So richtig Hunger hatte ich plötzlich nicht mehr.
Nach dem Abendessen blieben alle sitzen. Mama kochte eine Kanne Früchtetee und ich verteilte Tassen auf dem Tisch.
»Ich habe heute schon das Erdgeschoss geputzt und die Gardinen im Wohnzimmer gewaschen. Janine, du musst unbedingt heute Abend noch dein Zimmer aufräumen, damit ich da morgen früh staubsaugen kann, ja? Und mit aufräumen meine ich aufräumen und nicht: ›Alles, was rumliegt, in irgendeinen Schrank stopfen‹, klar?«
Ich nickte.
»Kerstin, könntest du heute Abend oder morgen früh noch einen Erdbeerkuchen machen? Ich habe alles eingekauft und den Boden schon gebacken. Du musst ihn also nur noch belegen und den Guss draufgießen.«
»Ja, kann ich machen«, Kerstin seufzte.
»Peter, schaffst du es, morgen schon um vier zu Hause zu sein? Frau Antunes hat sich für halb fünf angekündigt.«
»Ja, klar«, Papa nickte.
»Ich hab Fußballtraining morgen Nachmittag, Mama! Muss ich denn unbedingt hier sein oder kann ich nicht mal wegbleiben? Es geht doch sowieso immer um Janine«, maulte Stefan. Er war mittlerweile zwölf und das Einzige, was ihn interessierte, waren die Schule und Fußball.
»Stefan, es ist wichtig, dass du da bist, auch wenn du den Eindruck hast, es würde nicht um dich gehen. Aber es geht um uns alle, um uns als Familie. Wir müssen zeigen, dass hier alles gut funktioniert und in normalen Bahnen verläuft. Dass Janine hier ein gutes Umfeld hat und gut aufgehoben ist. Da spielt jeder von uns eine Rolle.« Sie machte eine Pause. Papa tat sich Zucker in den Tee.
»Es ist einfach wichtig, dass wir zeigen, dass wir eine sehr stabile Familie sind und gerade jetzt, wo Janines Oma gestorben ist, für sie da sind.« Mama wirkte nervös und drehte dauernd an ihrer Tasse rum.
»Gibt es denn noch etwas zu klären, bevor Frau Antunes kommt? Sie wird uns allen wie immer Fragen stellen. Es ist besser, wir sprechen vorher darüber, was wir ihr antworten.« Mama schaute uns an.
»Kann ich sagen, dass ich ein paarmal mit Janine im Kino war? Spricht da irgendwas dagegen?«, fragte Kerstin.
»Nein, gar nicht. Wir haben ja immer genau geguckt, dass ihr in Filme geht, die ab vierzehn freigegeben sind. Da gibt’s sicher keine Probleme«, antwortete Mama.
»Ich möchte meine Mutter nicht mehr besuchen«, sagte ich.
Mama sah mich nachdenklich an. »Ja, ich habe auch schon darüber nachgedacht, ob wir nicht mal ansprechen, dass es dir immer so schlecht geht, wenn du wieder nach Hause kommst. Vielleicht finden wir ja irgendeinen Kompromiss, der es dir ein bisschen leichter macht.«
»Ich will da wirklich nicht mehr hin!«, sagte ich noch einmal.
»Nina, tu mir einen Gefallen, raste nicht aus, wenn Frau Antunes da ist. Auch wenn sie was sagt, was dir nicht passt. Bleib einfach ruhig. Sag in Ruhe, was du möchtest, wir kriegen das schon alles hin. Aber brüll nicht, okay?« Mama war sehr ernst. Sie hatte immer furchtbar Angst, dass ich im Beisein der Leute vom Jugendamt einen Ausraster bekam.
Ich nickte. Es war ja nicht so, dass ich diese Ausraster bekommen wollte. Manchmal konnte ich nur einfach nicht anders.
Mama nahm meine Hand und sah mir in die Augen.
»Nina, wenn du rumschreist, kann es sein, dass die vor mir sitzen und zu mir sagen: ›Hören Sie mal, was machen Sie denn eigentlich aus dem Kind? Die ist ja völlig irre. Die brüllt hier rum, hat sich überhaupt nicht im Griff.‹«
»Was heißt denn, ›die brüllt hier nur rum‹! Jeder meint hier, über mich bestimmen zu können!« Ich riss meine Hand aus ihrer und sprang auf. »Ich bin kein Kind mehr! Ich habe doch selber eine Vorstellung von meinem Leben. Ich muss mir doch nicht von jedem Arsch, der hier alle paar Monate reinkommt, mein Leben erklären lassen! Oder du dir deins«, schrie ich. Stefan hielt sich die Ohren zu.
Meine Wut war plötzlich wieder weg.
»Sorry«, murmelte ich und setzte mich.
»Siehst du, genau das meine ich. Bleib morgen einfach mal
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