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Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Titel: Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Kunze
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die Jahre den Mund gehalten. Ich verzog keine Miene und blieb ganz ruhig. Ich würde keine Träne vergießen. Weil sie so weinte, würde ich nicht weinen. Weil ich nicht mehr zu ihr gehörte. Ich würde niemals heulen, um mich in den Mittelpunkt zu stellen. Ich würde mich niemals so gehen lassen. Ich konnte gar nicht mehr traurig sein, weil ich so wütend war! Noch nie im Leben war mir meine leibliche Mutter so fremd gewesen.
    Als sie sich endlich etwas beruhigt hatte, ging sie, gestützt von Helmut, zum Grab und warf ihre Rose hinein. Sie schluchzte noch einmal auf und stellte sich wieder neben mich. Ich hatte einen kleinen Strauß Maiglöckchen dabei. Oma hatte mir vor Jahren Maiglöckchen gezeigt und gesagt, dass sie fand, dass sie lustig aussahen. Lauter kleine weiße Glöckchen, die an dem Stängel rumbaumelten, wenn man sie anstupste. Wir hatten uns immer gefreut, wenn wir irgendwo Maiglöckchen sahen. Es war Mamas Idee gewesen, ihr einen Strauß Maiglöckchen ins Grab zu legen. Ich warf den Strauß ins Grab. Außerdem einen kleinen gefalteten Zettel. Auf ihn hatte ich ein Gedicht geschrieben, das Oma und ich immer sehr traurig, aber auch sehr schön fanden. Seit Oma tot war, sagte ich es mir oft vor. Es tröstete mich ein bisschen, weil es sich anhörte, als würde Oma mit mir sprechen:
    Schau hoch zum Mond, da wo mein Blick jetzt wohnt.
    Er schenkt dir tausend Küsse, weil ich dich so vermisse .
    Ich vermisste sie auch so sehr! Oma war im Himmel angekommen. Ich hoffte, dass sie endlich ihre ersehnte Ruhe gefunden hatte.
    Danach gingen alle anderen Trauergäste einzeln ans Grab, verabschiedeten sich von Oma, warfen Blumen oder Sand ins Grab und schüttelten uns die Hand oder umarmten uns. Die meisten kannte ich nicht. Ich stand wieder neben meiner Mutter und hielt es kaum aus, wie sie den Leuten gegenüber tat.
    Irgendwann war die Zeremonie endlich vorbei und ich ging zu Mama und Papa, ohne noch etwas zu meiner Mutter zu sagen. Sie verabschiedeten sich von ihr, und wir gingen zum Auto. Als wir die Autotüren hinter uns geschlossen hatten, begann Mama leise zu weinen. Ich starrte aus dem Fenster. Kurz nachdem Papa losgefahren war, drehte Mama sich zu mir um und sagte:
    »Janine, Mäuschen, wie geht es dir? Du bist so still. Konntest du gar nicht weinen?«
    Ich sagte nichts, schaute Mama nur kurz an und schüttelte den Kopf. Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht so eine Show abziehen wollte wie meine Mutter, aber ich brachte keinen Ton raus. Ich konnte nicht weinen. Und ich konnte auch nicht sprechen.
    »Dann lass ich dir mal deine Ruhe«, sagte sie, strich mir über das Knie und wandte sich wieder nach vorne.
    Papa schaute in den Rückspiegel und sah mich prüfend an.
    Ich blickte aus dem Fenster, bis wir zu Hause waren.
    Kerstin hatte etwas zum Mittagessen gekocht und Stefan war gerade aus der Schule gekommen. Er fragte, wie es mir ginge, aber ich konnte immer noch nicht sprechen. Ich fühlte mich wie unter Wasser. Ganz weit weg und doch da. Mama sagte:
    »Das war ein schlimmer Vormittag für Janine, Stefan. Es geht ihr nicht gut. Wir müssen alle sehr lieb zu ihr sein in der nächsten Zeit und Rücksicht nehmen.«
    Stefan nickte. Ich war so froh, dass Mama mich immer verstand!
    Ich konnte nichts essen, obwohl es extra wegen mir Spaghetti Bolognese gab. Aber ich blieb trotzdem bei den anderen sitzen. Nach dem Mittagessen ging ich in mein Zimmer und setzte mich auf mein Bett. Plötzlich kamen die Tränen. Und hörten nicht mehr auf zu fließen. Ich vermisste Oma so sehr! Ich fühlte mich so allein.
    Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann kam Mama ins Zimmer, nahm mich in den Arm und tröstete mich.
    Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich:
    »Oma war der einzige gute Mensch in meiner leiblichen Familie. Ich will mit denen nichts mehr zu tun haben. Ich gehöre zu euch und nicht zu denen.«
    Mama sah mich besorgt an. Dann nickte sie.
    Trotzdem musste ich am Sonntag hin. Meine Mutter wollte noch einmal in Omas Wohnung gehen, bevor sie ausgeräumt wurde, und hatte gefragt, ob ich mitwollte. Ich hatte keine Lust, meine Mutter zu sehen, sah aber ein, dass das wohl die einzige Möglichkeit war, noch einmal Omas Sachen um mich herum zu haben und mich ihr nah zu fühlen. Meine Mutter holte mich mit dem Taxi ab und ließ uns zum Gottesweg fahren. Der Geruch in Omas Wohnung traf mich wie ein Schlag. Es war, als wäre sie noch hier. Ihr Duft war noch da.
    Meine Mutter war wieder relativ

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