Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Überraschungseffekt machte Kohl am 28. November 1989 in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages sein «Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas» bekannt. Die ersten fünf Punkte markierten Stufen der innerdeutschen Entwicklung: Sofortmaßnahmen, Zusammenarbeit, Ausweitung der bundesdeutschen Hilfen, die von Modrow angesprochene «Vertragsgemeinschaft» und darüber hinaus «konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland» mit dem «Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen». Dann wechselte das Programm auf die internationale Ebene, um die Einbettung in den internationalen Integrationsprozess zu dokumentieren: durch die Fortentwicklung der Ost-West-Beziehungen, der europäischen Einigung, des KSZE-Prozesses und der Abrüstung. Schließlich sollte zehntens der «Zustand des Friedens in Europa» erreicht werden, in dem Deutschland «seine Einheit wiedererlangen kann» – wofür Kohl zu diesem Zeitpunkt einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren veranschlagte.
Obwohl die Zehn Punkte sprachlich und inhaltlich nach allen Seiten abgesichert waren und Kohl in keinem Punkt über Bekanntes oder über wiederholt geäußerte (Rechts-)Standpunkte der Bundesrepublik hinausging, rief er ein gewaltiges Echo hervor. Denn Kohl hatte das Tabu gebrochen, regierungsoffiziell über eine deutsche Wiedervereinigung zu sprechen – er hatte das Thema nun definitiv auf die politische Agenda gesetzt. Und er hatte instinktiv die Stimmung in der DDR-Bevölkerung und ihre Entwicklungsrichtung erfasst.
Lange vor dem formellen Plebiszit für die Wiedervereinigung schloss Kohl eine informelle nationale Koalition mit der Massenbewegung in der DDR, wie sich drei Wochen später, am19. Dezember zeigte, als Kohl nach Dresden reiste. Wichtiger als das Gespräch mit Ministerpräsident Modrow, wichtiger auch als das Gespräch mit Oppositionsvertretern, mit denen der Bonner Kanzler nicht recht warm wurde, war Kohls direkte Begegnung mit der Bevölkerung, vor allem seine Rede vor der Ruine der Frauenkirche. Dass an diesem schicksalsträchtigen Ort in winterlicher Abendstimmung manches inszeniert war, änderte nichts daran, dass Kohl in einem Akt quasi-ritueller Akklamation von den Ostdeutschen gleichsam als Heilsbringer begrüßt wurde, deren mehrheitlichen Willen zur deutschen Einheit er fortan mit entschiedener Konsequenz in Politik umsetzte. Damit wurde die Bonner Regierung binnen weniger Wochen von einem Agenten zur bestimmenden Kraft. Diese vereinigungspolitische Dynamik in Deutschland kontrastierte freilich scharf mit den internationalen Reaktionen auf Kohls Offensive der Zehn Punkte.
3. Internationale Reaktionen
Eine Woche nach Kohls Proklamation der Zehn Punkte machten Gorbatschow und Schewardnadse dem nach Moskau gereisten Außenminister Genscher ohne Rücksicht auf den diplomatischen Komment den sowjetischen Standpunkt zu Kohls deutschlandpolitischer Initiative und zur deutschen Frage klar: Ein «Ultimatum» seien Kohls Zehn Punkte gewesen, wetterte der Kremlchef, eine «äußerst dreiste Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates». In einem fort ereiferte sich Gorbatschow, Kohl kommandiere einfach herum, führe sich auf «wie ein Elefant im Porzellanladen» und sei «offenbar bereits davon überzeugt, dass seine Musik, sein Marsch gespielt wird, und er hat bereits angefangen, dazu zu marschieren.» Unverhohlen spielte Gorbatschow auf die deutsche Vergangenheit an, als er daran erinnerte, «wozu diese kopflose Politik in der Vergangenheit geführt hat», und sein Außenminister legte noch nach (wobei nicht alle überlieferten Protokolle diese Äußerung enthalten): so etwas hätte sich «nicht einmal Hitler erlaubt».
Offenkundig fühlte sich Gorbatschow vom deutschen Bundeskanzler hintergangen, der ihm in ihrem Telefongespräch unmittelbar nach dem Fall der Mauer zugesagt hatte, die Stabilität zu bewahren. Für Gorbatschow hieß dies, die Eigenständigkeit der DDR zu respektieren, an deren weiterer Existenz er ebenso wenig einen Zweifel ließ wie an ihrer fortdauernden Mitgliedschaft im Warschauer Pakt. Gorbatschow ahnte zumindest im Herbst 1989, was eine deutsche Wiedervereinigung für seine Reformpolitik und für die Sowjetunion bedeuten konnte: An dem Tag, an dem sich Deutschland vereinige, so soll er Ende November zu Mitterrand gesagt haben, werde «ein Marschall der Sowjetunion meinen Platz
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