Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
auf die bundesdeutschen Rechtsstandpunkte und auf die Offenheit der deutschen Frage. Dabei verschob sich die Zielvorgabe von einer territorialen Einheit hin zu Freiheit und Selbstbestimmungsrecht für die DDR-Bevölkerung. Selbstbestimmung, so erklärte Kohls außenpolitischer Berater Teltschik dem sowjetischen Botschafter noch Ende September 1989, «könne Einheit heißen, müsse es aber nicht zwangsläufig.»
Seit ihrem Amtsantritt im Herbst 1982 verfolgte die Regierung Kohl eine Deutschlandpolitik in charakteristischer Verbindung von normativer Abgrenzung und praktischer Kooperation, wie sie sich am spektakulärsten in den Bundesbürgschaften für die Bankenkredite niederschlug, mit denen sie die DDR 1983 und 1984 vor der Zahlungsunfähigkeit rettete. Operative Wiedervereinigungspolitik betrieb die Bundesregierung nicht. So stießen US-amerikanische Diplomaten, als sie im Spätsommer 1989 in Bonn die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung ansprachen, auf verhaltene Reaktionen. «Wir wollten darauf hinwirken», so beschied Kanzleramtsminister Seiters dem stellvertretenden amerikanischen Außenminister, «dass sich die Lage für die Menschen in der DDR verbessere.»
Auch als die DDR im Herbst 1989 in die Krise geriet, blieb Bonn zunächst bei der eingespielten Kooperation: Es liege «nicht in unserem Interesse», so Kohl am 23. Oktober gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George Bush, «dass möglichst viele Menschen aus der DDR weglaufen», und ebenso wenig zielte die Bundesregierung darauf, die DDR zu destabilisieren. Anfang November allerdings vollzog die Bonner Regierung einen deutschlandpolitischen Kurswechsel, als Kohl politische Bedingungen stellte: «wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird.» Konkret forderte Kohl den Verzicht auf das Machtmonopol der SED, dieZulassung unabhängiger Parteien, freie Wahlen, den Abbau der bürokratischen Planwirtschaft und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Dies war nichts anderes als die Forderung nach Selbstaufgabe des SED-Regimes. Eine Wiedervereinigung freilich lag am Vorabend des Mauerfalls, von dem die Bonner Regierenden ebenso überrascht wurden wie die Zeitgenossen in Ost und West, noch außerhalb des Erwartungshorizonts.
Am 9. November war Kohl zu einem besonders schwierigen Regierungsbesuch in Warschau eingetroffen, denn das historisch schwer belastete deutsch-polnische Verhältnis bedurfte nach dem Wegfall des Ost-West-Konflikts einer Neugestaltung. Vor Beginn des Festbanketts erfuhr Kohl telefonisch aus Bonn, dass die DDR die innerdeutschen Grenzen öffnete. Im Laufe des Abends kam er zu dem Schluss, dass der Bundeskanzler in diesem historischen Moment in Berlin nicht fehlen dürfe. Obgleich die polnischen Gastgeber darüber wenig erfreut waren, unterbrach er den Regierungsbesuch mit einigen Mitgliedern der deutschen Delegation. Am 10. November flog er zunächst nach West-Berlin, wo ihn während einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus eine Nachricht Gorbatschows erreichte, der sich vor einer «chaotische[n] Situation» sorgte, deren «Folgen unübersehbar wären.» Danach telefonierte Kohl von Bonn aus mit den wichtigsten Regierungschefs, um deren Sorgen über die ungewisse weitere Entwicklung in Deutschland zu zerstreuen.
Angesichts der deutlich spürbaren Vorbehalte in den europäischen Hauptstädten zögerte Kohl nach dem Fall der Mauer zunächst, das Thema Wiedervereinigung öffentlich anzusprechen – aus Vorsicht, aber auch, weil in Bonn keinerlei Szenario für die Situation vorlag, die jetzt eingetreten war, kein Konzept für eine Wiedervereinigung und keine Planung für den Tag X. Der deutschlandpolitische Ernstfall kam auch für die Bonner Regierung völlig überraschend. Als dann aber auf den ostdeutschen Demonstrationen die Parole «Deutschland einig Vaterland» immer lauter wurde, als Hans Modrow am 17. November mit dem Vorschlag einer «Vertragsgemeinschaft» seinen Hut in den deutschlandpolitischen Ring warf und als Kohl auchin der bundesdeutschen Öffentlichkeit zunehmend als passiv kritisiert und zum Handeln gedrängt wurde und die Debatte sich zu verselbständigen drohte, entschloss er sich, in die Offensive zu gehen, um – mit den Worten seines Beraters Teltschik – «öffentlich die Meinungsführerschaft im Hinblick auf die Wiedervereinigung [zu] übernehmen».
Mit eingeplantem
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