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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Rödder
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Orientierungs- und Differenzierungskämpfe und deutliche Unterschiede zwischen den einzelnenRichtungen auf. In dieser Konstellation war die Oppositionsbewegung nicht in der Lage, nach dem Sturz des SED-Regimes eigene Gestaltungskraft für einen Neuaufbau innerhalb der DDR zu entwickeln. Bald fand sich die Bewegung, die kurz zuvor die revolutionäre Entwicklung und den Sturz der SED-Herrschaft angestoßen hatte, am Rande des Geschehens wieder.
    Als der Runde Tisch Anfang Dezember 1989 zusammentrat, war nicht nur bei der Oppositionsbewegung, sondern im gesamten Land die Euphorie des Sieges über das SED-Regime in handfeste Krisenstimmung umgeschlagen. Während sich Meinungspluralismus und eine kritische Öffentlichkeit etablierten, ging die Mobilisierungsdynamik der Massenbewegung nach der Öffnung der Grenzen bald wieder verloren; nach dem Aufbruch verbreiteten sich Desorientierung und Unsicherheit in der Bevölkerung.
    Zunehmend sickerten Informationen über das tatsächliche Ausmaß der desaströsen ökonomischen Lage der DDR durch – und dies im nun täglich greifbaren Gegensatz zur Bundesrepublik, gegen deren Währung die Ostmark binnen Kürzestem ins Bodenlose fiel. Angesichts wuchernder Gerüchte und Verschwörungstheorien sowie der Angst vor Anarchie und Chaos eskalierte eine zunehmend aggressive «Stimmung des ‹Rette-sich-wer-kann›», wie es in einer westdeutschen Aufzeichnung hieß. Zugleich drohte die DDR auch personell auszubluten: Allein zwischen dem 1. und dem 20. November hatten 100.000 Personen das Land verlassen.
    Nach dem Fall der Mauer und dem faktischen Kollaps der SED-Herrschaft tat sich in der DDR ein Machtvakuum auf. Welche Richtung die weitere Entwicklung nehmen würde, war in der zweiten Novemberhälfte zunächst ganz offen. Bald aber stellte sich heraus, dass der Runde Tisch und die Oppositionsbewegung mit dem Ziel, die DDR zu erhalten, auf ein totes Gleis fuhren, denn die Massenbewegung hatte die Weichen in eine andere Richtung gestellt und einen Zug in Fahrt gesetzt, der einstweilen führerlos unterwegs war. In dieser Situation kam die Bonner Regierung unter Helmut Kohl ins Spiel.
2. Die Regierung in Bonn und Kohls Zehn-Punkte-Programm
    1989 feierte die Bundesrepublik wie die DDR den 40. Jahrestag ihrer Gründung, und sie tat dies im Vollgefühl der «Erfolgsgeschichte» vom «Modell Deutschland». Der westliche Teilstaat hatte sich zu einer wohlhabenden und stabilen freiheitlichen Demokratie entwickelt, die zudem am Ende der achtziger Jahre einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte wie seit dem Ende des Nachkriegsbooms zu Beginn der siebziger Jahre nicht mehr. Hohe Wachstumsraten bei relativ niedriger Inflation, Massenwohlstand für 80 bis 90 Prozent der Gesellschaft und zudem eine offenkundige Trendwende am Arbeitsmarkt nach anderthalb Jahrzehnten hoher Arbeitslosigkeit beförderten das unbändige Selbstbewusstsein, mit dem die Bundesrepublik in die Wiedervereinigung ging.
    Freilich war die deutsche Frage den Westdeutschen bis zum Herbst 1989 weit entrückt. Zur Gründungszeit der Bundesrepublik war eine Wiedervereinigung in naher Zukunft erwartet worden. Als sich die Nachkriegsverhältnisse des Ost-West-Konflikts allerdings verfestigt hatten und die Supermächte zur Politik der Entspannung übergingen, kam Bonn nicht umhin, sich mit dem Status quo zu arrangieren. Diese Anpassung leistete die sozial-liberale Ostpolitik zu Beginn der siebziger Jahre, die mit ihrer Leitidee vom «Wandel durch Annäherung» noch eine Perspektive der Veränderung besaß, die im Lauf der Zeit indessen zunehmend verlorenging.
    Ende der achtziger Jahre hatte sich die Bundesrepublik in der Teilung eingerichtet. 70 bis 80 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, so ergaben Meinungsumfragen im Jahr 1987, befürworteten eine Wiedervereinigung als langfristiges Ziel – und derselbe Anteil schloss aus, sie noch im 20. Jahrhundert zu erleben. Dabei war das Meinungsspektrum breit differenziert: Teile der politischen Linken kehrten sich explizit von der Option einer Wiedervereinigung ab; der Wiedervereinigungsbegriff der Präambel des Grundgesetzes sei, so der frühere Regierungssprecher Klaus Bölling im Mai 1989, «durch und durch antiquiert»und gehöre «mitsamt der ‹Wiedervereinigungsphraseologie› in den Orkus der Geschichte». Demgegenüber hielten die bürgerlichen Parteien an der offiziellen grundgesetzkonformen Position zur deutschen Frage fest. Immer wieder verwies Bundeskanzler Kohl öffentlich

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