Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
einnehmen». Gorbatschow wollte eine reformsozialistische DDR, aber keine deutsche Wiedervereinigung.
Grundsätzlich hatte der Kreml, wo die großen außenpolitischen Entscheidungen in den Händen einer kleinen Gruppe von Männern lagen, im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung vier Optionen: Man konnte, am einen Ende der Skala, den Wiedervereinigungsprozess befürworten und ihn entschlossen zugunsten sowjetischer Interessen zu gestalten versuchen. Die einfachste, aber den sowjetischen Interessen am meisten zuwiderlaufende Möglichkeit war zweitens, den Prozess einfach geschehen zu lassen und die eigene Haltung der fortschreitenden Entwicklung anzupassen. Drittens konnte die Sowjetführung versuchen, den Prozess zumindest zu verzögern und somit Zeit zu gewinnen, wie auch immer die Zeiten dann aussehen mochten. Am anderen Ende der Skala stand schließlich entschlossenes Zuwiderhandeln, wie es Gorbatschow Ende 1989 andeutete.
Die sowjetische Führung verfügte allerdings in den entscheidenden Monaten über keine kohärente deutschlandpolitische Position. Einen «surrealistischen Wust von Ideen» habe er bei seiner Rückkehr nach Moskau im Mai 1990 vorgefunden, meinte der Bonner Botschafter Julij Kwizinski. Zudem band die krisenhafte Zuspitzung innerhalb der Sowjetunion die Aufmerksamkeit der Sowjetführung: In Aserbaidschan brachen gewaltsame Auseinandersetzungen aus, und gegenüber den nachUnabhängigkeit strebenden baltischen Republiken drohte eine militärische Intervention Moskaus. Vor diesem Hintergrund wuchsen die inneren Widerstände gegen Gorbatschow, der auf seine Umgebung «ratlos und bekümmert» wirkte. «Was soll ich nur tun?», so klagte er Ende Januar, «die Schläge werden immer schmerzhafter, die Wirtschaft treibt vor sich hin, das Volk ist an der Grenze seiner Kraft.» Chaos breitete sich aus, auch in der Partei und ihrer Führung, und ebenso im Behördenapparat. Gorbatschow war unentschlossen, gedanklich und sprachlich unklar, und Schewardnadse verwickelte sich zuweilen innerhalb eines einzigen Satzes in unauflösliche Widersprüche.
Vorbehalte gegen eine deutsche Wiedervereinigung herrschten unterdessen auch bei den westlichen Verbündeten der Bundesrepublik. Zwar hatten sich die drei westlichen Siegermächte im Deutschlandvertrag von 1954 verpflichtet, auf ein «wiedervereinigtes Deutschland» hinzuarbeiten, «das eine freiheitlichdemokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist». Doch bekannte man sich in den westlichen Hauptstädten leicht zur deutschen Wiedervereinigung, so der vormalige britische Premierminister Edward Heath, «weil wir wussten, dass sie nicht passieren würde».
Die akuten Vorbehalte der regierenden britischen Premierministerin Margaret Thatcher speisten sich einerseits aus der Sorge vor einer Schwächung und einem Sturz Gorbatschows durch deutsche Turbulenzen, zugleich aber nicht weniger aus einem tiefsitzenden Ressentiment gegen Deutschland, wie sie in ihren Memoiren freimütig berichtet. «Seit der Einigung unter Bismarck hat Deutschland […] stets auf unberechenbare Weise zwischen Aggression und Selbstzweifeln geschwankt.» Ein «wiedervereinigtes Deutschland ist schlichtweg viel zu groß und zu mächtig, als dass es nur einer von vielen Mitstreitern auf dem europäischen Spielfeld wäre. […] Daher ist Deutschland vom Wesen her eher eine destabilisierende als eine stabilisierende Kraft im europäischen Gefüge. Nur das militärische und politische Engagement der USA in Europa und die engen Beziehungen zwischen den beiden anderen starken, souveränen StaatenEuropas, nämlich Großbritannien und Frankreich, können ein Gegengewicht zur Stärke der Deutschen bilden.»
Auch die
classe politique
in Frankreich reagierte überwiegend reserviert bis ablehnend auf Kohls Zehn-Punkte-Programm. An der Spitze der
Grande Nation
herrschten sicherheitspolitische Bedenken und allgemeine Unsicherheit gegenüber dem Nachbarn im Osten, beruhigt freilich durch die Erwartung, die Supermächte, vor allem die Sowjetunion, würden eine Auflösung der Pakte und eine Wiedervereinigung Deutschlands verhindern. Auch Staatspräsident François Mitterrand, Kohls wichtigster Partner in Europa, gab Rätsel auf, deren Lösung in seinen «zwei Seelen» lag: Er war für Selbstbestimmung, aber gegen die damit verbundenen Probleme. Als französischer Patriot hatte er alles Verständnis für die Nation, sorgte sich aber
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