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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Rödder
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der Wirtschaftsunion. Im Kern ging es darum, die Entscheidung über das Angebot und die Festsetzung der Preise von staatlichen Planstellen auf die Anbieter am Markt zu übertragen. Dazu drängte Bonn auf eine schnelle Überführung der Unternehmen von Staats- in Privateigentum, und am 17. Juni verabschiedete die Volkskammer das Gesetz zur Errichtung der Treuhand. Als Anstalt des öffentlichen Rechts wurde ihr die Aufgabe der Privatisierung, gegebenenfalls auch der vorherigen Sanierung oder aber der Stilllegung von fast 8000 Betrieben übertragen, wobei die Devise der Treuhand lautete: schnell privatisieren – entschlossen sanieren – behutsam stilllegen.
    Als das Treuhand-Gesetz zum 1. Juli in Kraft trat, wurde die Anstalt zur Eigentümerin von 7894 Volkseigenen Betrieben mit vier Millionen Beschäftigten und einer Grundfläche, die mehr als die Hälfte der DDR umfasste. Das konfrontierte sie mit einer Aufgabe gewaltigen Ausmaßes. Für die Transformation einer Planwirtschaft in das völlig inkompatible System einer Marktwirtschaft gab es kein historisches Vorbild und keinerlei Erfahrungswerte, kein verlässliches Wissen über die ostdeutsche Wirtschaft im Westen und kaum konzeptionelle Vorlaufzeit. Rasch entfernten sich die tatsächlichen Erfahrungen von den ursprünglichen Erwartungen. Noch im Frühjahr 1990 hatte dieStaatsbank der DDR die Vermögenswerte des Landes auf 580 Milliarden Mark zuzüglich Grund und Boden, Post und anderer produzierender Bereiche beziffert. Daher wurde noch im Oktober 1990 erwartet, dass die Treuhand Privatisierungserlöse von 600 Milliarden D-Mark erzielen werde, aus denen sich die Kosten für die Anpassungshilfen und Schulden refinanzieren lassen würden, die der Bund für die Sanierung der DDR aufnehmen müsse.
    Die Einschätzungen mussten jedoch permanent nach unten korrigiert werden. Als zum 1. Juli 1990 die Preise für Güter und Dienstleistungen in der DDR freigegeben wurden, fanden die Konsumenten in den Geschäften volle Regale vor – mit der Wirtschafts- und Währungsunion war die Mangelwirtschaft in der DDR vorüber. Die Versorgung kam jedoch in hohem Maße aus dem Westen; Westprodukte wurden gekauft, DDR-Produkte hingegen vom Markt verdrängt, weil die Käufer sie nicht mehr akzeptierten. Ostdeutsche Betriebe waren in vielen Bereichen und vor allem gegenüber den westdeutschen Unternehmen nicht konkurrenzfähig. Zudem brach der hochregulierte, marktferne Osthandel mit den Comecon-Staaten zusammen.
    Mit der Wirtschafts- und Währungsunion brach die industrielle Produktion der DDR ein, und sie stürzte umso tiefer, als der Zustand der DDR-Wirtschaft weit maroder war als erwartet. Besonders betroffen waren Bergbau, Industrie und warenproduzierendes Gewerbe sowie die Landwirtschaft. Gleich mehrere Entwicklungen und Problemlagen kamen hier zusammen. Erstens kollabierten die völlig unproduktiven und dysfunktionalen Strukturen einer vom Weltmarkt abgeschotteten gelenkten Wirtschaft ohne freie Preisbildung, einschließlich ihrer immensen personellen Überkapazitäten. Verstärkt wurde dieser Prozess, zweitens, durch die überkommene Beschäftigungsstruktur der DDR: Ihr Schwergewicht lag nämlich in ebenjenen Bereichen, die in den westlichen Industriegesellschaften durch den gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel hin zu einem erhöhten Anteil von Dienstleistungen seit Jahrzehnten in hohem Maße Arbeitsplätze abgebaut hatten. Das Beitrittsgebiet musste also mit einem Schlag den in der DDR verschleppten volkswirtschaftlichenStrukturwandel der gesamten Nachkriegszeit nachholen – und dies, drittens, in unmittelbarer Konkurrenz mit den haushoch überlegenen westdeutschen Unternehmen, die mit einem hochdifferenzierten Angebot über Jahrzehnte hin die Märkte besetzt hatten. Demgegenüber schlug in den neuen Ländern ein weiteres, entscheidendes Erbe der DDR-Wirtschaft und ihrer langfristigen Abschottung vom Weltmarkt voll durch: das Fehlen von weltmarktfähigen Produkten samt dem zugehörigen Marktwissen, mithin von indigenen Innovationspotentialen. Diese Ausgangslage war, so wird jedenfalls aus der Rückschau deutlich, «geradezu verzweifelt» (Karl-Heinz Paqué).
    So verlief der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft noch viel «dramatischer […], als es selbst Pessimisten erwartet hatten» (Hans-Werner Sinn). Bald war nicht mehr zu übersehen, dass Regierung und Verantwortliche bei der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion von viel zu optimistischen Grundannahmen

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