Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
auszustreichen, sie schrieb, wie man atmet, wie man träumt. Das fortwährende Gebrumm der Autos wurde schwächer, man hörte kein Türenschlagen mehr, Paris wurde still. Sie schrieb noch, als die Stunde der Müllfahrer begann und die Morgendämmerung anbrach. Die erste Nacht, die sie ganz und gar so verbrachte, wie zweifellos Nachtwandler die Nächte verbringen, sich selbst entrissen oder - wer weiß? sich selbst zurückgegeben. Am Morgen verwahrte sie den Block, der die beiden Anfänge enthielt, die Sie kennen, denn wenn Sie dies hier lesen, haben Sie sich bereits die Mühe gemacht, die ganze Geschichte zu lesen, von der Sie heute mehr wissen, als die Autorin damals. Sie mußte jetzt aufstehen, sich waschen, anziehen, frisieren, den starren Harnisch wieder anlegen, das alltägliche Lächeln aufsetzen, die übliche stumme Sanftmut zur Schau tragen. Morgen, nein, übermorgen, würde sie ihm das Heft geben.
Sie reichte es ihm sofort, als er ins Auto stieg, wo sie ihn erwartete, einige Meter vor einer Straßenkreuzung, in einer kleinen Straße in der Nähe einer U-Bahnstation und eines Marktes. (Suchen Sie nicht nach der Stelle, es gibt viele, die ihr ähnlich sind, und es ist kaum wichtig, welche es war.) Gleich lesen, nicht fragen. Im übrigen stellte sich diese Zusammenkunft als eine von jenen heraus, zu denen man kommt, um zu sagen, daß man nicht kommt, weil man zu spät erfährt, daß man absagen muß, und es nicht rechtzeitig tun kann. Immerhin war es schön, daß er hatte entfliehen können. Sonst hätte sie eine Stunde gewartet und wäre am nächsten Tag zur selben Stunde wiedergekommen, zur selben Stelle, nach den uralten Regeln der Vogelfreien. Er sagte entfliehen, denn alle beide bedienten sich eines Vokabulars von Häftlingen, die sich nicht gegen ihr Gefängnis empören, und vielleicht waren sie sich darüber klar, daß sie, wenn sie das Gefängnis schlecht ertrugen, es auch schlecht ertragen würden, daraus entlassen zu werden, weil sie sich schuldig fühlten. Die Vorstellung, daß man nach Hause gehen mußte, machte die heimliche Zeit besonders wertvoll, denn sie siedelte sich außerhalb der wirklichen Zeit an, gleichsam in einer bizarren und ewigen Gegenwart. In dem Maße, in dem die Jahre vergingen, ohne ihnen mehr Freiheit zu bringen, hätten sie sich durch die Jahre, die vor ihnen zusammenschrumpften, gehetzt fühlen müssen. Aber nein. Die Hindernisse jedes Tages, jeder Woche - entsetzliche Sonntage ohne Briefe, ohne Telefon, ohne daß ein Wort oder ein Blick möglich waren, entsetzliche Ferien, irgendwo am Ende der Welt, und immer war jemand da, der fragte: »Woran denkst du?« - diese Hindernisse genügten, daß sie sich quälten und immer fürchteten, der andere könne sich verändert haben. Sie erhoben nicht den Anspruch, glücklich zu sein, aber nachdem sie sich einmal erkannt hatten, flehten sie zitternd darum, daß es von Dauer sein möge, mein Gott, daß es von Dauer sein möge... daß nicht plötzlich der eine dem anderen fremd erscheine, daß diese unverhoffte Brüderlichkeit anhalten möge, die seltener ist als das Begehren und kostbarer als Liebe - oder die vielleicht schließlich Liebe sein würde. So war alles ein Wagnis: ein Zusammensein, ein neues Kleid, eine Reise, ein unbekanntes Gedicht. Aber nichts würde sie hindern, diese Wagnisse auf sich zu nehmen. Das ernsteste an diesem Tage war indes das Heft. Und wenn die Trugbilder, die es enthüllte, ihren Geliebten entrüsteten oder, was schlimmer wäre, ihn langweilten oder, was noch schlimmer wäre, ihm lächerlich erschienen? Natürlich nicht um dessentwillen, was sie waren, sondern weil sie von ihr stammten, und weil man selten denen, die man liebt, Freiheiten verzeiht, die man allen anderen zugesteht. Sie hatte sich zu Unrecht geängstigt: »Ah«, sagte er. »Fahren Sie fort. Was geschieht dann? Wissen Sie es?« Sie wußte es. Sie verriet es nach und nach. Den ganzen Spätsommer hindurch, während des ganzen Herbstes, erst am glühendheißen Strand, dann in einem trostlosen Badeort und schließlich wieder im rötlichgelben, versengten Paris schrieb sie, was sie wußte. Jeweils zehn oder fünf Seiten, ganze Kapitel oder Bruchstücke von Kapiteln steckte sie in einen Umschlag und schickte diese Seiten im gleichen Format wie der ursprüngliche Block, die manchmal mit Bleistift, manchmal mit Kugelschreiber oder Füllfederhalter geschrieben waren, an eine postlagernde Adresse. Weder Kopie, noch Konzept, nichts hob sie auf. Aber die
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