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Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy

Titel: Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Réage
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Diejenigen, die für es das Wort ergreifen, sind nur Übersetzer, denen, ohne daß man weiß, warum (warum gerade sie, warum an jenem Tage?) erlaubt wird, einen Augenblick einige der Fäden dieses uralten Netzes verbotener Gedanken zu ergreifen. Schließlich, nach fünfzehn Jahren, warum nicht ich?
Was ihn, für den ich diese Geschichte schrieb, begeisterte, sagt sie noch, war ihre Ähnlichkeit, die sie mit meinem Leben hatte. Konnte es sein, daß die Geschichte dessen verzerrtes Spiegelbild war? Daß sie dessen Schlagschatten war, unkenntlich, verkürzt wie der eines Spaziergängers in der Mittagssonne, oder auch deshalb unkenntlich, weil er teuflisch verlängert war wie der Schatten eines Menschen, der an einem leeren Strand vom Atlantischen Ozean zurückkommt, wenn die Sonne in Flammen hinter ihm versinkt? Zwischen dem, was ich zu sein glaubte, und dem, was ich erzählte und zu erfinden glaubte, sah ich zugleich einen so weiten Abstand und eine so nahe Verwandtschaft, daß ich mich selbst darin nicht erkannte. Zweifellos nahm ich mein Leben nur mit so viel Geduld (oder Passivität oder Schwäche) hin, weil ich genau wußte, daß ich, wenn ich es wünschte, dieses andere, verborgene Leben wiederfinden würde, das über das Leben hinwegtröstet, das sich nicht eingestehen, nicht mit jemandem teilen läßt - und siehe da, dank ihm, den ich liebte, gestand ich es ein und teilte es von nun an mit jedem, der wollte, ebenso vollkommen prostituiert in der Anonymität eines Buches wie in dem Buch dieses Mädchen ohne Gesicht, ohne Alter, ohne Namen und sogar ohne Vornamen. Über sie hat er niemals eine Frage gestellt. Er wußte, daß sie eine Idee war, eine flüchtige Vorstellung, ein Schmerz, die Negation eines Schicksals. Aber die anderen? René, Jacqueline, Sir Stephen, Anne-Marie? Und die Orte, die Straßen, die Gärten, die Häuser, Paris, Roissy? Und die Verhältnisse? Ja, die glaubte ich zu kennen. René zum Beispiel (ein sehnsuchtsvoller Vorname) war die Erinnerung, nein, die Spuren einer Jugendliebe oder vielmehr einer Hoffnung auf Liebe, die ansonsten niemals existierte, und René hat niemals geahnt, daß ich ihn lieben könnte. Aber Jacqueline hat ihn geliebt. Und vor ihm mich. Indes war sie nicht mein erster Liebeskummer gewesen. Fünfzehn war sie, wie ich, und das ganze Schuljahr hindurch hatte sie mich verfolgt und sich über meine Kälte beklagt. Kaum war sie in die Ferien entschwunden, da erwachte ich aus dieser Kälte. Ich schrieb ihr. Juli, August, September, drei Monate lang lauerte ich dem Briefträger vergeblich auf. Trotzdem schrieb ich. Diese Briefe haben alles zerstört. Jacquelines Eltern verboten ihr, mich zu sehen, und von ihr, die nun in eine andere Klasse ging, erfuhr ich, daß »das eine Sünde sei«. Was war denn eigentlich eine Sünde? Was warf man mir vor? Der Tag ist auch nicht unschuldiger... Rosalinde und Celia hatte ich neu erfunden, in aller Harmlosigkeit - die nicht anhielt. Jacqueline, die wirkliche Jacqueline, kommt also in der Geschichte nur mit ihrem Vornamen und ihrem hellen Haar vor. Die Jacqueline der Geschichte ist eher eine blasierte, blasse junge Schauspielerin, mit der ich eines Tages in der Rue de L'Eperon zu Mittag gegessen hatte. Der alte Mann, der ihr ihren Schmuck, ihre Schneiderkostüme und ihren Wagen bezahlte, rief mich als Zeugen an: »Sie ist schön, nicht wahr?« Ja, sie war schön. Ich habe sie niemals wiedergesehen. Ist René etwas, das ich hätte erraten können, wenn ich ein Mann gewesen wäre? Einem anderen Mann derart hörig, daß er ihm alles abtritt und dieses Gebaren eines Vasallen dem Lehensherrn gegenüber nicht einmal für anachronistisch hält? Das befürchte ich. Während die imaginäre Jacqueline im wahrsten Sinne des Wortes die Fremde war. Allerdings brauchte ich lange, um mir darüber klar zu werden, daß ein Mädchen wie sie - die ich verzweifelt bewunderte - mir in einem anderen Leben meinen Geliebten genommen hatte. Und ich rächte mich, indem ich sie nach Roissy schickte, ich, die ich jede Rache zu verachten vorgab und nicht einmal imstande war, es zu erkennen. Das Ersinnen einer Geschichte ist eine sonderbare Falle. Sir Stephen hingegen hatte ich mit eigenen Augen gesehen. Mein damaliger Geliebter, derselbe, von dem ich gerade gesprochen habe, hat ihn mir eines Nachmittags in einer Bar in der Nähe der Champs-Elysées gezeigt: halb auf einem Hocker sitzend vor der Mahagonitheke, schweigend, ruhig, wie ein Fürst aussehend mit jenen grauen

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