Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy

Titel: Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Réage
Vom Netzwerk:
Post ist zuverlässig. Die Geschichte war noch nicht fertig, da verlangte der Mann, als sie ihre Zusammenkünfte im herbstlichen Paris wieder aufgenommen hatten, sie solle ihm die Geschichte nach und nach laut vorlesen; und in dem schwarzen Wagen, am hellichten Nachmittag in einer verkehrsreichen und tristen Straße des dreizehnten Arrondissements, in der Nähe der Butteaux-Cailles, wo man noch in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts zu leben glaubt, oder am Ufer des Kanal St.-Martin, wo die Brücken fast chinesisch sind, mußte sich das Mädchen, das vorlas, dann und wann unterbrechen, denn es ist zwar möglich, sich in der Stille die schlimmste und heikelste Einzelheit auszudenken, sie zu ersinnen und niederzuschreiben, aber es ist nicht möglich, das laut vorzulesen, was in endlosen Nächten geträumt wurde.
Indessen hörte die Geschichte eines Tages auf. Für O gab es nichts als diesen Tod, dem sie insgeheim mit aller Kraft entgegeneilte und zu dem ihr in zwei Zeilen die Zustimmung erteilt wurde. Was die Frage betrifft, wie das Manuskript ihrer Geschichte in die Hände von Jean Paulhan geriet, so habe ich versprochen, das nicht zu verraten, und auch den richtigen Namen von Pauline Réage nicht zu nennen, wobei ich mich auf die Ritterlichkeit derjenigen verlasse, die ihn kennen, damit er ebenso lange nicht verbreitet werde, wie es mir unmöglich erscheint, dieses Versprechen zu brechen. Im übrigen ist nichts trügerischer und vergänglicher als eine Identität. Wenn man glauben kann, wie es Hunderte von Millionen Menschen glauben, daß wir mehrere Leben leben, warum soll man dann nicht auch glauben, daß wir in jedem Leben der Treffpunkt mehrerer Seelen seien? Wer bin ich schließlich, sagt Pauline Réage, wenn nicht der auf lange Zeit stumme Teil von irgend jemandem, der nächtliche und geheime Teil, der sich niemals öffentlich durch eine Tat, durch eine Geste verrät, ja nicht einmal durch ein Wort, sondern über die Schleichwege des Imaginären mit Träumen umgeht, die so alt sind wie die Welt? Woher mir diese immer wiederkehrenden und so hartnäckigen Träume kamen, gerade vor dem Einschlafen, immer dieselben, in denen die reinste und scheueste Liebe stets die qualvollste Hingabe guthieß oder vielmehr forderte, in denen kindische Bilder von Ketten und Peitschen der Gewalt die Symbole der Gewalt hinzufügten, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie heilsam für mich waren und mich rätselhafterweise beschützten - im Gegensatz zu den vernünftigen Träumen, die sich um das tägliche Leben drehen und versuchen, es zu ordnen und zu zügeln. Ich habe es nie verstanden, mein Leben zu zügeln. Indes ging alles so vor sich, als ob diese seltsamen Träumereien mir dabei behilflich seien, als ob mit diesen Rasereien und dieser Wollust des Unmöglichen irgendein Lösegeld bezahlt werde: die Tage, die darauf folgten, waren dadurch sonderbarerweise leichter geworden, während die besonnenen Zahlungsanweisungen auf die Zukunft und die Vorausberechnungen des gesunden Menschenverstandes sich jedesmal durch die Ereignisse widerlegt sahen. Ich lernte sehr bald, daß man die öden Stunden der Nacht nicht dazu verwenden durfte, erdachte Wohnungen zu möblieren, nicht existierende, aber mögliche Wohnungen, wo Verwandte und Freunde zusammen glücklich wären (welche Schimäre!) - daß man aber unbesorgt geheime Schlösser einrichten könne, vorausgesetzt, man bevölkert sie mit verliebten Mädchen, prostituiert durch die Liebe und triumphierend in ihren Ketten. Auch die Schlösser von de Sade, die entdeckt wurden, nachdem die meinen schon längst in der Stille erbaut worden waren, haben mich niemals überrascht, ebensowenig wie seine Freunde des Verbrechens: ich hatte schon meine Geheimgesellschaft, eine viel harmlosere und unmündigere. Aber er hat mir begreiflich gemacht, daß wir alle in dem Sinne Kerkermeister und alle im Gefängnis sind, als es in uns immer einen gibt, den wir uns selbst anketten, den wir einsperren, den wir zum Schweigen bringen. Durch einen merkwürdigen Rückschlag geschieht es, daß das Gefängnis sogar die Freiheit erschließt. Die Steinmauern einer Zelle, die Einsamkeit, aber auch die Nacht, wiederum die Einsamkeit, die wohlige Wärme des Bettes, die Stille befreien dieses Unbekannte, dem wir den Tag verweigern. Es entflieht uns und entflieht unaufhörlich, trotz der Mauern, trotz der Zeitalter und Verbote. Es geht von einem zum anderen von einer Epoche, einem Land zum anderen.

Weitere Kostenlose Bücher