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Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Trotzki
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im Paradezimmer des Bahnhofs beengen. Tschcheidse war besser als seine Begrüßungsrede. Er fürchtete Lenin ein wenig. Doch war ihm sicher eingeflößt worden, man müsse diesen "Sektierer" von Anfang an zurechtweisen. Als Ergänzung zu der Rede Tschcheidses, die das traurige Niveau der Führung demonstrierte, verfiel ein junger Flottenequipagekommandeur, der im Namen der Matrosen sprach, darauf, den Wunsch zu äußern, Lenin möge Mitglied der Provisorischen Regierung werden. So empfing die Februarrevolution, zerfahren, wortreich und einfältig den Mann, der in der ersten Absicht gekommen war, ihr Sinn und Willen einzuflößen. Schon diese ersten Eindrücke, die mitgebrachte Besorgnis verzehnfachend, riefen ein schwer zurückzuhaltendes Protestgefühl hervor. Nur schnell die Ärmel hochkrempeln! Appellierend von Tschcheidse an die Matrosen und Arbeiter, von der Vaterlandsverteidigung an die internationale Revolution, von der Provisorischen Regierung an Liebknecht, machte Lenin auf dem Bahnhof nur eine kleine Probe seiner ganzen weiteren Politik durch.
    Und dennoch hatte diese plumpe Revolution den Führer sogleich und fest in ihren Schoß aufgenommen. Die Soldaten verlangten, daß Lenin auf einem Panzerwagen Platz nähme, und es blieb ihm nichts übrig, als diese Forderung zu erfüllen. Die herabgesunkene Nacht gestaltete den Zug besonders imposant. Bei gelöschten Lichtern der übrigen Panzerwagen durchschnitt der Scheinwerfer des Autos, in dem Lenin fuhr, grell die Finsternis. Der Lichtstrahl entriß dem Dunkel der Straßen die erregten Scharen der Arbeiter, Soldaten und Matrosen, der gleichen, die die größte Umwälzung vollbracht hatten, die Macht aber zwischen den Fingern entgleiten ließen. Das Militärorchester mußte unterwegs mehrere Male schweigen, um Lenin die Möglichkeit zu geben, vor immer neuen und neuen Hörern seine Bahnhofsrede zu variieren. "Der Triumph war glänzend", sagt Suchanow, "und sogar recht symbolisch."
    Im Kschesinskaja-Palais, dem bolschewistischen Stab im Atlasnest der Hofballerina - diese Vermischung muß der stets wachen Ironie Lenins Spaß gemacht haben -, begannen die Begrüßungen von neuem. Das war schon zuviel. Lenin erduldete die Ströme von Lobreden wie ein ungeduldiger Passant den Regen unter einem zufälligen Tor. Er fühlte die aufrichtige Freude über seine Ankunft heraus, aber es ärgerte ihn, daß diese Freude so redselig war. Der ganze Ton der offiziellen Begrüßungen kam ihm nachgeahmt, affektiert vor, mit einem Wort, der kleinbürgerlichen Demokratie entlehnt, deklamatorisch, sentimental und falsch. Er sah, daß die Revolution ihrer Aufgaben und Wege noch nicht bestimmt, aber bereits ihre ermüdende Etikette geschaffen hatte. Er lächelte gutmütig-vorwurfsvoll, blickte auf die Uhr und gähnte wohl von Zeit zu Zeit ungezwungen. Noch waren die letzten Begrüßungsworte nicht verklungen, als der ungewöhnliche Gast über dieses Auditorium mit einem reißenden Strom leidenschaftlicher Gedanken herfiel, die sehr häufig wie Geffielhiebe klangen. In jener Periode war die Stenographiekunst dem Bolschewismus noch nicht geläufig. Niemand machte Notizen, alle waren zu stark vom Geschehen ergriffen. Die Rede ist nicht erhalten geblieben, es blieb nur der allgemeine Eindruck von ihr in den Erinnerungen der Zuhörer, aber auch er unterlag der Bearbeitung der Zeit: Die Begeisterung wurde vergrößert, die Angst verkleinert. In Wirklichkeit war der Eindruck der Rede, selbst bei den Allernächsten, vorwiegend gerade der der Angst. Alle gewohnten Formeln, die während des Monats, wie es schien, durch endlose Wiederholungen unerschütterliche Festigkeit gewonnen hatten, explodierten eine nach der andern vor den Augen des Auditoriums. Die kurze Leninsche Replik auf dem Bahnhof, hingeworfen über den Kopf des fassungslosen Tschcheidse, wurde hier zu einer zweistündigen Rede entwickelt, unmittelbar an die Petrograder Kader des Bolschewismus gerichtet.
    Zufällig war in dieser Versammlung als Gast, eingelassen durch Kamenjews Gutmütigkeit - Lenin duldete solche Nachsicht nicht -, der parteilose Suchanow anwesend. Diesem Umstand verdanken wir die von einem Außenstehenden stammende, halb feindliche, halb begeisterte Schilderung der ersten Begegnung Lenins mit den Petrograder Bolschewi-ki.
    "Unvergeßlich ist mir die donnerähnliche Rede, die nicht allein mich, einen zufällig hierher geratenen Häretiker, erschütterte und verblüffte, sondern auch alle Rechtgläubigen. Ich

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