Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
systematische Übergabe des Bodens an die Bezirkskomitees. Am kühnsten wurde diese Maßnahme im Kreise Spassk durchgeführt, wo an der Spitze der Bauernorganisationen ein Bolschewik stand. Die Gouvernementsbehörden führen bei der Zentralbehörde Beschwerde über die Agraragitation, die von den aus Kronstadt zugereisten Bolschewiki betrieben werde, wobei diese die fromme Nonne Tamara angeblich "wegen Widerrede" verhaftet hatten.
Aus dem Gouvernement Woronesch meldete der Kommissar am 2. Juni: "Fälle von Rechtsbeugungen und ungesetzlichen Akten häufen sich im Gouvernement mit jedem Tage mehr, besonders auf dem Agrargebiete." Landaneignungen im Gouvernement Pensa mehrten sich. Ein Dorfkomitee im Gouvernement Kaluga nahm einem Kloster die Hälfte der Heuernte; auf Beschwerde des Vorstehers hin entschied das Kreiskomitee: die ganze Heuernte sei wegzunehmen. Das ist kein Sonderfall, daß die obere Instanz radikaler ist als die untere. Die Äbtissin Maria aus dem Gouvernement Pensa klagte über Enteignung klösterlichen Besitzes. "Die Lokalbehörden sind ohnmächtig." Im Gouvernement Wjatka belegten die Bauern das Gut der Skoropadskis, der Familie des späteren ukrainischen Hetmans, mit Beschlag und verfügten, "bis zur Lösung der Frage über den Bodenbesitz": den Wald nicht anzutasten und die Einkünfte aus dem Gut an die Staatskasse abzuführen. An vielen anderen Orten setzen die Landkomitees nicht nur den Pachtzins um das Fünf-bis Sechsfache herab, sondern verfügten außerdem, ihn nicht an die Gutsbesitzer, sondern bis zur Lösung der Frage durch die Konstituierende Versammlung an die Komitees abzuführen. Das war keine Advokaten-, sondern eine Mu-schik-, das heißt ernste Antwort zur Frage des Nichtvorgreifens der Bodenreform bis zur Konstituierenden Versammlung. Im Gouvernement Saratow begannen die Bauern, die noch gestern den Gutsbesitzern Wald zu fällen verboten hatten, ihn selbst abzuholzen. Immer häufiger eignen sich die Bauern dort, wo es wenig gutsherrlichen Boden gibt, kirchliche und klösterliche Ländereien an. Gemeinsam mit den Soldaten des lettischen Bataillons griffen die lettischen Landarbeiter in Livland zur planmäßigen Aneignung der Güter der Barone.
Im Gouvernement Witebsk jammern die Waldhändler, daß die Maßnahmen der Landkomitees den Waldhandel ruinieren und die Versorgung der Front gefährden. Nicht minder uneigennützige Patrioten, die Gutsbesitzer des Gouvernements Poltawa, trauern, daß die Agrarunruhen sie hindern, die Armee mit Proviant zu beliefern. Schließlich warnt der Kongreß der Pferdezüchter in Moskau, daß die Aneignungen der Bauern die vaterländische Pferdezüchterei unheilvoll bedrohen. Gleichzeitig beschwert sich der Oberprokureur des Synods, der nämliche, der die Mitglieder der heiligen Institution als "Idioten und Schufte" bezeichnet hatte, bei der Regierung darüber, daß im Gouvernement Kasan die Bauern den Mönchen nicht nur Land und Vieh wegnehmen, sondern auch das für die Hostie nötige Mehl. Im Petrograder Gouvernement, zwei Schritt von der Hauptstadt entfernt, verjagten die Bauern den Pächter von einem Gut und übernahmen die Bewirtschaftung selbst. Der wachsame Fürst Urussow telegraphiert am 2. Juni wieder an alle Enden des Landes: "Trotz meinen Forderungen ..." usw., usw. "Ich ersuche erneut, entschiedenste Maßnahmen zu treffen." Der Fürst vergaß nur anzugeben, welche.
Während sich im ganzen Lande die gigantische Arbeit der Ausrodung der tiefsten Wurzeln von Mittelalter und Leibeigenschaft vollzog, sammelte Ackerbauminister Tschernow in seinen Kanzleien Material für die Konstituierende Versammlung. Er hatte sich vorgenommen, die Reform nicht anders als auf Grund genauester Angaben über die Bodenverhältnisse und allerhand anderer Statistiken durchzuführen, und redete deshalb den Bauern mit süßester Stimme zu, das Ende seiner Exerzitien abzuwarten. Das hinderte übrigens die Gutsbesitzer nicht, den Bauernminister von seinem Posten zu stürzen, lange bevor er mit seinen sakramentalen Tabellen fertig war.
Auf Grund der Archive der Provisorischen Regierung haben junge Forscher berechnet, daß die Agrarbewegung, die im Monat März mit größerer oder geringerer Heftigkeit nur in 34 Kreisen einsetzte, im April bereits 174, im Mai 236. im Juni 280, im Juli 325 Kreise erfaßt hatte. Diese Zahlen geben jedoch kein vollständiges Bild von dem wirklichen Wachsen der Bewegung, da der Kampf in jedem Kreise von Monat zu Monat einen breiteren und
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