Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
jüdischer Intelligenz, das zum "Bund" gehörte. Dieses kombinierte Trio, das durch seine Zusammensetzung den Eindruck einer politischen Kuriosität machte, stellte sich gleichsam die Aufgabe, die Ohnmacht des Regimes zur Schau zu stellen. Die Plechanow-Leute und der "Bund" waren unter den feindlichen Rufen der Menge gezwungen, ihre Banner einzurollen. Den standhaft gebliebenen Kosaken hatten die Demonstranten das Banner tatsächlich entrissen und es vernichtet.
"Der dahingleitende Fluß", so schildert es die Iswestja, "verwandelte sich in einen schwellenden, breiten Strom, der aus seinen Ufern zu treten drohte." Das war der Wyborger Bezirk - ganz unter bolschewistischen Bannern: "Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten." Ein Betrieb trug das Plakat: "Das Recht auf Leben steht über dem Recht auf Privatbesitz." Diese Losung war von keiner Partei diktiert worden.
Die Augen der verängstigten Provinzler suchten die Führer. Diese hielten ihre Blicke gesenkt oder versteckten sich. Die Bolschewiki bedrängten die Provinzler. Ist denn das einem Häuflein Verschwörer ähnlich? Die Delegierten mußten zugeben: Nein, es sei nicht ähnlich. "In Petrograd seid ihr die Macht", gestanden sie in einem von den offiziellen Sitzungen ganz verschiedenen Ton, "aber nicht in der Provinz und nicht an der Front. Petrograd kann nicht gegen das ganze Land gehen." "Wartet ab", antworteten ihnen die Bolschewiki, "bald kommt auch ihr an die Reihe, auch bei euch wird man die gleichen Plakate hochheben."
"Während dieser Demonstration", schrieb der Greis Plechanow, "stand ich neben Tschcheidse auf dem Marsfeld. Ich las auf seinem Gesicht, daß er sich über die Bedeutung der verblüffend großen Zahl der Plakate, die die Absetzung der kapitalistischen Minister forderten, keinen Illusionen hingab. Der befehlshaberische Ton, in dem sich einige Vertreter der Leninisten, wie wahrhafte Geburtstagskinder vorbeigehend, an ihn wandten, unterstrich diese Bedeutung."
Die Bolschewiki hatten jedenfalls Grund für solch ein Selbstbewußtsein. "Nach den Plakaten und Parolen der Kundgebung zu urteilen", schrieb Gorkis Zeitung, "erwies die Sonntagsdemonstration den völligen Triumph des Bolschewismus beim Petrograder Proletariat." Das war ein großer Sieg, und dabei in jener Arena und mit jenen Waffen errungen, die vom Gegner gewählt worden waren. Nachdem er die Offensive gutgeheißen, die Koalition anerkannt und die Bol-schewiki verurteilt hatte, berief der Sowjetkongreß die Massen auf die Straße. Sie erklärten ihm: Wir wollen weder die Offensive noch die Koalition, wir sind für die Bolschewiki. Das war das politische Ergebnis der Demonstration. Ist es da verwunderlich, wenn die Zeitung der Menschewiki, der Initiatoren der Demonstration, am nächsten Tag melancholisch fragte: wem ist dieser unglückselige Gedanke in den Sinn gekommen?
Gewiß hatten nicht alle Arbeiter und Soldaten der Hauptstadt an der Demonstration teilgenommen, und nicht alle Demonstranten waren Bolschewiki. Aber schon wollte keiner von ihnen die Koalition. Jene Arbeiter, die dem Bolschewismus noch feindlich gegenüberstanden, wußten ihm nichts entgegenzustellen. Das allein verwandelte ihre Feindseligkeit in abwartende Neutralität. Unter bolschewistischen Parolen marschierten nicht wenige Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die mit ihren Parteien noch nicht gebrochen, aber den Glauben an deren Parolen bereits verloren hatten. Die Demonstration vom 18. Juni übte einen gewaltigen Eindruck auf ihre Teilnehmer aus. Die Massen erkannten, daß der Bolschewismus eine Macht geworden war, und die Schwankenden fühlten sich von ihm angezogen. In Moskau, Kiew, Charkow, Jekaterinoslaw und vielen anderen Provinzstädten enthüllten die Demonstrationen das ungeheure Anwachsen des Einflusses der Bolschewiki. Überall wurden die gleichen Losungen aufgestellt, und sie trafen das Februarregime mitten ins Herz. Man mußte Schlußfolgerungen ziehen. Es schien, daß die Versöhnler keinen Ausweg hatten. Aber im letzten Augenblick half die Offensive.
Am 19. Juni fand auf dem Newskij-Prospekt unter Leitung von Kadetten und mit Bildern von Kerenski eine patriotische Kundgebung statt. Nach Miljukows Worten "sah das dem, was auf den gleichen Straßen am Tage zuvor geschehen war, so unähnlich, daß sich unwillkürlich dem Gefühl des Triumphes ein Gefühl des Mißtrauens zugesellte". Ein berechtigtes Gefühl! Die Versöhnler aber atmeten erleichtert auf. Ihr Gedanke erhob sich sogleich als
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