Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
diesem Tage nicht wie an den vorangegangenen Tagen in den Betrieben versammeln konnten, was die Demonstration erschwerte. Am Morgen herrschte auf dem Newski-Prospekt Stille. In diesen Stunden telegraphierte die Zarin an den Zaren: "In der Stadt herrscht Ruhe." Doch die Ruhe währt nicht lange. Allmählich sammeln sich die Arbeiter und bewegen sich aus allen Vorstädten nach dem Zentrum. Man läßt sie nicht über die Brücken. Die Massen strömen über das Eis: es ist ja noch Februar und die ganze Newa eine Eisbrücke. Die Beschießung der Menge auf dem Eis genügt nicht, sie aufzuhalten. Die Stadt ist wie verwandelt. Überall Patrouillen, Sperrketten, Streifen Berittener. Die Zugänge zum Newski werden besonders scharf überwacht. Dauernd ertönen Salven aus unsichtbarem Hinterhalt. Die Zahl der Getöteten und Verwundeten wächst. Nach verschiedenen Richtungen bewegen sich die Wagen der Ersten Hilfe. Woher geschossen wird, und wer schießt, ist nicht immer zu erkennen. Zweifellos hat die Polizei nach der ernsten Lektion, die sie erhalten hat, beschlossen, sich der Gefahr nicht mehr offen auszusetzen. Sie schießt aus Fenstern, Balkontüren, hinter Säulen versteckt, von Dachböden. Es entstehen Hypothesen, die schnell zu Legenden werden. Man erzählt, zur Abschreckung der Demonstranten seien viele Soldaten in Polizeiuniform gesteckt worden. Man erzählt, Protopopow habe unzählige Maschinengewehrposten auf Dächern untergebracht. Eine nach der Revolution geschaffene Kommission hat solche Posten nicht nachweisen können. Das heißt aber nicht, daß es sie nicht gegeben hat. Jedenfalls trat die Polizei an diesem Tage in den Hintergrund. In der Tat tritt endgültig Militär auf den Plan. Es wird ihm strengstens befohlen, zu schießen, und die Soldaten, hauptsächlich die Lehrkommandos, das heißt die Regimentsschulen für Unteroffiziere, schießen. Nach offiziellen Meldungen gab es an diesem Tage an die vierzig Tote und ebensoviel Verwundete, nicht gezählt jene die von der Menge weggeführt oder weggetragen wurden. Der Kampf geht in ein entscheidendes Stadium über. Wird die Masse vor dem Blei in ihre Viertel zurückweichen? Nein, sie weicht nicht zurück. Sie will ihr Ziel erreichen.
Schrecken überkommt das beamtete, bürgerliche, liberale Petrograd. Der Vorsitzende der Reichsduma, Rodsjanko, fordert an diesem Tage die Entsendung zuverlässiger Truppen von der Front; dann "überlegt" er es sich und empfiehlt dem Kriegsminister Belajew, die Menge nicht durch Feuer, sondern durch kaltes Wasser aus Schläuchen der Feuerwehr auseinanderzutreiben. Nach einer Beratung mit General Chabalow antwortet Belajew, daß Wasserduschen eine umgekehrte Wirkung erzielen, "gerade weil sie erregen". So unterhielten sich Liberale, Würdenträger und Polizei über die Vorzüge einer kalten oder heißen Dusche für das aufständische Volk. Die Polizeimeldungen von diesem Tage besagen, daß die Feuerwehrschläuche nicht ausreichten. "Während der Unruhen konnte man als allgemeine Erscheinung beobachten, daß die tobenden Haufen ein äußerst herausforderndes Verhalten gegen die Truppen an den Tag legten; auf die Aufforderung, auseinanderzugehen, antwortete die Menge mit Steinen und von der Straße aufgelesenen Eisstücken. Wurden Schreckschüsse in die Luft abgegeben, dann zerstreute sich die Menge nicht nur nicht, sondern nahm solche
Salven mit Gelächter auf. Erst nach Abgabe scharfer Schüsse mitten in die Menge hinein gelang es, die Ansammlungen zu zerstreuen, deren Teilnehmer jedoch in den meisten Fällen sich in den nächstliegenden Höfen versteckten und wieder auf der Straße erschienen, sobald das Schießen verstummte." Diese polizeiliche Übersicht läßt die außerordentlich hohe Temperatur der Massen erkennen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß die Menge von sich aus begonnen hat, das Militär, waren es auch die Lehrkommandos, mit Steinen und Eis zu bombardieren: dies widerspricht völlig der Psychologie der Aufständischen und ihrer klugen Taktik in bezug auf die Armee. Um die Massenmorde nachträglich zu rechtfertigen, sind die Farben der Berichte nicht ganz den Tatsachen entsprechend gewählt und verteilt. Das Wesentliche aber ist richtig und kraß wiedergegeben: die Masse will nicht mehr weichen, sie widersetzt sich mit optimistischer Wut, bleibt auf den Straßen auch nach den tödlichen Salven, klammert sich nicht an das Leben, sondern an das Pflaster, an die Steine, an das Eis. Die Menge ist nicht bloß erbittert,
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