Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
lassen, imponierend durch Aussehen und Organ, deklamatorisch beredsam, nicht sehr zuverlässig, aber häufig unersetzbar. Ihm wurde von unten stürmisch applaudiert. Aber die Demonstranten wünschten vor allem Lenin selbst zu hören - den man gerade an diesem Morgen aus seinem finnländischen Asyl herbeigerufen hatte -, und die Matrosen blieben so beharrlich bei ihrem Verlangen, daß Lenin, trotz einem Unwohlsein, sich dem nicht zu entziehen vermochte. Eine ungezügelte, rein kronstädtische Begeisterungswelle begrüßte das Erscheinen des Führers auf dem Balkon. Ungeduldig und wie stets halb verlegen die Begrüßung hinnehmend, begann Lenin, bevor noch die Stimmen verstummten. Seine Rede, die dann wochenlang von der feindlichen Presse in allen Tonarten zerzaust wurde, bestand aus einigen einfachen Sätzen: Begrüßung der Demonstranten; Worte der Gewißheit, daß die Parole "Alle Macht den Sowjets" schließlich siegen werde, Mahnung zu Ausdauer und Standhaftigkeit. Mit neuen Rufen formiert sich die Demonstration unter Orchesterklängen. Zwischen dieser festlichen Einleitung und der nächsten Etappe, wo Blut floß, keilt sich eine kuriose Episode ein. Die Führer der Kronstädter linken Sozialrevolutionäre entdeckten erst auf dem Marsfelde an der Spitze der Demonstration ein Riesenplakat des Zentralkomitees der Bol-schewiki, das aufgetaucht war nach dem Aufenthalt vor dem Hause Kschessinskaja; vor Parteieifersucht brennend, verlangten sie seine Entfernung. Die Bolschewiki weigerten sich. Darauf erklärten die Sozialrevolutionäre, dann gingen sie überhaupt weg. Von den Matrosen und Soldaten folgte jedoch niemand den Führern. Die gesamte Politik der linken Sozialrevolutionäre bestand aus solchen launenhaften, bald komischen, bald tragischen Schwankungen.
An der Ecke des Newski- und des Litejny-Prospektes wurde die Nachhut der Demonstration plötzlich beschossen, es gab einige Opfer. Eine erbitterte Beschießung folgte an der Ecke des Litejny-Prospektes und der Pantelejmonowskaja-Straße. Der Führer der Kronstädter, Raskolnikow, erinnert sich, wie schwer die Demonstranten betroffen waren von der "Ungewißheit: wo ist der Feind? woher, von welcher Seite wird geschossen?" Die Matrosen griffen zu den Gewehren, es begann eine regellose Schießerei nach allen Richtungen, einige Mann wurden getötet, einige verwundet. Nur mit großer Mühe gelang es, so etwas wie Ordnung wiederherzustellen. Der Zug marschierte weiter unter Musikklängen, doch von der festlich gehobenen Stimmung war keine Spur mehr geblieben. "Überall schien der unsichtbare Feind zu lauern. Die Gewehre ruhten nicht mehr friedlich an der linken Schulter, sondern wurden in Bereitschaft gehalten."
Der blutigen Zusammenstöße gab es während des Tages in verschiedenen Stadtteilen nicht wenige. Ein gewisser Teil davon geht auf Konto von Mißverständnissen, Wirrwarr, abirrenden Kugeln und Panik. Solche tragischen Zufälle sind unvermeidliche Mehrausgaben einer Revolution, die selbst eine Mehrausgabe der historischen Entwicklung ist. Aber auch ein Element blutiger Provokation ist in den Juliereignissen ganz unbestreitbar, wurde in jenen Tagen festgestellt und später bestätigt. "... Als die demonstrierenden Soldaten", erzählt Podwojski, "den Newski und die anliegenden, vorwiegend von Bourgeoisie bevölkerten Straßen passierten, tauchten unheilverkündende Anzeichen eines Zusammenstoßes auf, seltsame, unbekannt woher und von wem abgegebene Schüsse ... Durch die Kolonnen ging anfangs eine Verwirrung, dann eröffneten die weniger Standhaften und Disziplinierten eine regellose Schießerei." In den offiziellen Iswestja beschrieb der Menschewiki Kantorowitsch die Beschießung einer Arbeiterkolonne mit folgenden Worten: "Auf der Sadowaja Straße marschierte eine sechzigtausendköpfige Menge Arbeiter verschiedener Betriebe. Während sie an der Kirche vorbeigingen, ertönte vom Glockenturm Geläut, und wie auf ein Signal hin begann von den Hausdächern eine Schießerei aus Gewehren und Maschinengewehren. Als die Arbeitermenge auf die andere Straßenseite stürzte, ertönten auch von den Häusern der entgegengesetzten Seite Schüsse." Von den Boden und Dächern aus, wo sich im Februar Protopopows "Pharaonen" mit Maschinengewehren eingenistet hatten, wirkten jetzt Mitglieder von Offiziersorganisationen. Durch Beschießung der Demonstranten suchten sie, nicht ohne Erfolg, Panik zu säen und Zusammenstöße zwischen den Truppenteilen hervorzurufen. Bei
Weitere Kostenlose Bücher