Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
"Alle Macht den Sowjets" aufstellen", sagte der neue Vorsitzende des Petrograder Sowjets, "wissen wir, daß sie nicht alle Wunden im Handumdrehen heilen wird. Wir brauchen eine Macht, geschaffen nach dem Muster der Gewerkschaftsleitung, die den Streikenden alles gibt, was sie kann, nichts verheimlicht und, wenn sie nichts geben kann, es offen eingesteht ... "
Eine der ersten Regierungssitzungen war der "Anarchie" in der Provinz, besonders auf dem Lande, gewidmet. Wieder wurde als notwendig erkannt, "vor entschiedensten Maßnahmen nicht zurückzuschrecken". So nebenbei entdeckt die Regierung, daß Ursache der Erfolglosigkeit des Kampfes gegen Unruhen die "ungenügende Popularität" der Regierungskommissare unter den Massen der Bauernbevölkerung sei. Um der Sache abzuhelfen, wird beschlossen, in allen von Unruhen erfaßten Gouvernements eiligst "besondere Komitees der Provisorischen Regierung" zu organisieren. Von nun an wird die Bauernschaft Exekutionsabteilungen mit Willkommensrufen empfangen müssen.
Unüberwindliche historische Kräfte zogen die Herrschenden hinab. Niemand glaubte ernstlich an den Erfolg der neuen Regierung. Kerenskis Isoliertheit war unabänderlich. Seinen Verrat an Kornilow konnten die besitzenden Klassen nicht vergessen. "Wer bereit war, gegen die Bolschewiki zu kämpfen", schreibt der Kosakenoffizier Kakljugin, "wollte dies nicht im Namen und zur Verteidigung der Macht der Provisorischen Regierung tun." An die Macht sich klammernd, hatte Kerenski Angst, von ihr irgendeinen Gebrauch zu machen. Die wachsende Kraft des Widerstandes paralysierte schließlich seinen Willen völlig. Er wich allen Entschließungen aus und mied das Winterpalais, wo ihn die Situation zu Taten verpflichtete. Unmittelbar nach Bildung der neuen Regierung schob er den Vorsitz Konowalow zu und reiste selbst ins Hauptquartier ab, wo man ihn am allerwenigsten brauchte. Nach Petrograd kehrte er nur zurück, um das Vorparlament zu eröffnen. Obwohl die Minister ihn aufzuhalten suchten, reiste er am 14. wieder an die Front ab. Kerenski floh vor dem Geschick, das ihm auf den Fersen folgte.
Konowalow, Kerenskis nächster Mitarbeiter und Stellvertreter, geriet, nach Nabokows Worten, in Verzweiflung über Kerenskis Unbeständigkeit und völlige Unmöglichkeit, sich auf seine Worte zu verlassen. Doch die Stimmung der übrigen Kabinettsmitglieder unterschied sich wenig von der seines Hauptes. Die Minister blickten besorgt um sich, horchten, warteten ab, halfen sich mit leeren Schreibereien und beschäftigten sich mit Lappalien. Justizminister Maljanto-witsch war, nach Nabokows Erzählung, äußerst besorgt darüber, daß die Senatoren sich weigerten, Sokolow im schwarzen Gehrock als ihren neuen Kollegen aufzunehmen. "Was glauben Sie, was ist zu tun?" fragte besorgt Maljan-towitsch. Nach dem von Kerenski eingeführten Ritual wurde strengstens darauf geachtet, daß Minister einander nicht mit Namen und Vatersnamen, wie gewöhnliche Sterbliche, nannten, sondern nach dem Posten, den sie bekleideten: "Herr Minister so und so", wie es sich eben für Vertreter einer starken Macht geziemt. Die Erinnerungen der Beteiligten klingen wie eine Satire. Über seinen Kriegsminister schrieb später Kerenski selbst: "Das war die mißlungenste aller Ernennungen: Werschowski trug in seine Tätigkeit etwas unfaßbar Komisches hinein." Doch liegt das Unglück darin, daß ein Anflug unfreiwilliger Komik auf der gesamten Tätigkeit der Provisorischen Regierung lag: diese Menschen wußten nicht, was zu tun und wie sich zu drehen. Sie regierten nicht, sondern spielten Regierer, wie Schuljungen Soldaten spielen, nur viel weniger unterhaltsam.
Als Zeuge auftretend, charakterisierte Miljukow in sehr bestimmten Zügen den Zustand des Regierungsoberhauptes in jener Periode: "Indem er den Boden unter den Füßen verlor, offenbarte Kerenski je weiter desto mehr alle Anzeichen jener pathologischen Seelenverfassung, die man in der Sprache der Medizin als "psychische Neurasthenie" bezeichnen kann. Dem intimen Freundeskreis war längst bekannt, daß Kerenski, nach Augenblicken äußersten Energieverfalls am Vormittag, in der zweiten Tageshälfte unter dem Einfluß medizinischer Mittel, die er einnahm, in einen Zustand äußerster Erregung geriet." Miljukow erklärt den besonderen Einfluß des Kadetten-Ministers Kischkin, Psychiaters von Beruf, mit dessen Geschicklichkeit, den Patienten zu behandeln. Die Verantwortung für diese Informationen überlassen wir
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