Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
letzten zwei Wochen! Nur Ka-menjew bewahrte Treue der ursprünglichen Position, oder richtiger, nur er allein wagte sie zu verteidigen. In einer besonderen, an das Zentralkomitee der Partei adressierten Erklärung bezeichnete Kamenjew ohne Umschweife den eingeschlagenen Kurs als "ganz gefährlich für die Partei". Die undurchsichtigen Pläne der Bolschewiki riefen eine gewisse Unruhe beim Vorparlament hervor: man befürchtete eigentlich nicht eine Erschütterung des Regimes, sondern einen "Skandal" vor dem Antlitz der alliierten Diplomaten, die von der Mehrheit soeben mit der gebührenden Salve patriotischen Beifalls begrüßt worden waren. Suchanow erzählt, wie eine offizielle Persönlichkeit zu den Bolschewiki abgeordnet wurde - Awksentjew selbst - zum Zwecke einer sondierenden Anfrage: Was wird geschehen? "Lappalien", antwortete Trotzki, "Lappalien, nur ein kleiner Pistolenschuß."
Nach Eröffnung der Sitzung erhielt Trotzki gemäß dem von der Reichsduma erblich übernommenen Reglement zehn Minuten zu einer außerhalb der Tagesordnung stehenden Erklärung namens der bolschewistischen Fraktion. Im Saale verbreitet sich gespanntes Schweigen. Die Deklaration beginnt mit der Feststellung, die Regierung sei jetzt ebenso unverantwortlich wie vor der Demokratischen Beratung, die angeblich einberufen worden war zur Zähmung Kerenskis, und die Vertreter der besitzenden Klassen seien in einer Anzahl in den Provisorischen Rat hineingegangen, auf die sie nicht das geringste Anrecht hätten. Wäre die Bourgeoisie tatsächlich auf die Konstituierende Versammlung in anderthalb Monaten eingestellt, ihre Führer hätten keine Ursache, jetzt mit solcher Erbitterung die Unabhängigkeit der Macht selbst vor einer untergeschobenen Vertretung zu verteidigen. "Die ganze Weisheit liegt darin, daß die bürgerlichen
Klassen sich zur Aufgabe gestellt haben, die Konstituierende Versammlung zu sprengen." Der Hieb sitzt. Um so stürmischer protestiert der rechte Flügel. Ohne vom Text der Deklaration abzuweichen, geißelt der Redner die IndustrieAgrar- und Ernährungspolitik der Regierung: man könnte auch dann keinen anderen Kurs treiben, wenn man sich bewußt das Ziel gestellt hätte, die Massen auf den Weg des Aufstandes zu stoßen. "Der Gedanke, die revolutionäre Hauptstadt den deutschen Truppen preiszugeben ... wird geduldet als natürliches Glied der Gesamtpolitik, die die konterrevolutionäre Verschwörung ... erleichtern soll." Proteste gehen in Sturm über. Schreie: Berlin! Deutsches Gold! Plombierter Wagen! und auf diesem Hintergrunde, wie Flaschensplitter im Schmutz - Gossenflüche. So etwas hatte sich noch nie, auch nicht während der heißesten Kämpfe im schmutzigen, verwahrlosten, von Soldaten bespuckten Smolny, abgespielt. "Wir brauchten nur in die gute Gesellschaft des Mariinski-Palais zu geraten ..." schreibt Suchanow, "damit sich sogleich jene Budikenatmosphäre einstellte, die in der konzessionierten Reichsduma geherrscht hatte."
Sich den Weg bahnend durch Haßausbrüche, die mit Momenten der Beruhigung abwechseln, schließt der Redner: "Wir, die Fraktion der Bolschewiki, erklären: mit dieser Regierung des Volksbetrugs und mit diesem Rat des konterrevolutionären Gewährenlassens haben wir nichts gemein ... Indem wir den Provisorischen Rat verlassen, appellieren wir an die Wachsamkeit und den Mut der Arbeiter, Soldaten und Bauern ganz Rußlands. Petrograd ist in Gefahr! Die Revolution ist in Gefahr! Das Volk ist in Gefahr! ... Wir wenden uns an das Volk. Alle Macht den Sowjets!"
Der Redner tritt von der Tribüne ab. Einige Dutzend Bolschewiki verlassen den Saal, begleitet von Flüchen. Nach sorgenvollen Minuten ist die Mehrheit geneigt, erleichtert aufzuatmen. Entfernt haben sich lediglich die Bolschewiki - die Blüte der Nation bleibt auf dem Posten. Nur der linke Flügel der Versöhnler duckte sich unter dem Hieb, der scheinbar nicht gegen sie geführt war. "Wir, die nächsten Nachbarn der Bolschewiki", gesteht Suchanow, "saßen da völlig niedergeschmettert durch all das Vorgefallene." Die reinen Ritter des Wortes verspürten, daß die Zeit der Worte vorbei war. Außenminister Tereschtschenko informierte in einem Geheimtelegramm die russischen Gesandten über die Eröffnung des Vorparlaments: "Die erste Sitzung ist ganz farblos verlaufen mit Ausnahme eines von den Bolschewiki veranstalteten Skandals." Der historische Bruch des Proletariats mit der Staatsmechanik der Bourgeoisie wurde von diesen Menschen als
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